Atsuko Kato begrüßt uns vor ihrem 200 Jahre alten Bauernhof. Schon beim Eintreten spüren wir die stille, fast meditative Atmosphäre. Das geräumige Esszimmer mit seinen sichtbaren Holzbalken und dem typischen japanischen Alkoven erzählt von Tradition und Geschichte. Heute sind wir ihre einzigen Gäste. Nicht, weil ihr Restaurant, versteckt zwischen den Feldern der Halbinsel Izu, wenig besucht wäre – im Gegenteil: Im Rakan bewirtet die in Japan bekannte Köchin täglich nur eine Gruppe von maximal sechs Personen. Ihr Können, ihr Haus und ihre volle Aufmerksamkeit widmet sie ausschließlich diesen wenigen Gästen.

Keramikkunst und Holzfeuer
Atsuko Kato heizt den Holzofen an, der von außen zugänglich ist. Ganz traditionell kocht sie darauf den Reis für das bevorstehende Kaiseki-Menü. Auf dem Weg zum Ofen hinter dem Haus gehen wir durch einen Raum, übervoll mit wunderschönen Tellern, Platten und kleinen Schalen. Sie stammen, erzählt sie, von ihrem verstorbenen Ehemann Chihiro Kato, einem bekannten Keramikkünstler. Auf seinen Werken serviert sie viele Speisen ihres Kaiseki-Menüs.

Omotenashi – Die Kunst der Gastfreundschaft
Die japanische Gastfreundschaft, Omotenashi, ist fest in der japanischen Kultur verankert und zeigt sich in unzähligen Gesten. Sie begegnet uns bei der Teezeremonie, im Restaurant, bei der Begrüßung in Hotels oder öffentlichen Räumen. Atsuko Kato beherrscht Omotenashi in Vollendung. Rasch breitet sich bei uns eine wohltuende Ruhe aus. Wir öffnen uns dem bevorstehenden Menü, das aus liebevoll und detailreich zubereiteten Speisen besteht. Die Aufmerksamkeit, die unsere Gastgeberin uns schenkt, verwandeln wir in eine im Westen kaum gelebte Achtsamkeit gegenüber unserem Essen.

Kulinarik im Einklang mit der Natur
Das Kaiseki-Menü gilt als höchste Form der japanischen Kochkunst. Es verlangt äußerste Sorgfalt bei Präsentation, Farbe, Textur, Form und Anordnung der Speisen. Jede Komposition spiegelt die Jahreszeit wider, hebt regionale Zutaten hervor und schafft Harmonie zwischen den Gängen. Dabei zählt nicht nur die Optik: Die Speisen sollen auch geschmacklich und in ihrer Konsistenz überraschen. Schon die Anordnung der Gerichte vereint Kochkunst, Ästhetik und Symbolik – stets mit dem Ziel, den Gast ganzheitlich zu erfreuen.

Ein Kaiseki-Menü besteht aus mehreren kleinen Gängen, die verschiedene Kochtechniken und saisonale Zutaten zeigen. Es bildet ein vollwertiges Menü, das kunstvoll auf die jeweilige Jahreszeit abgestimmt ist. Bei Atsuko Kato stammen Reis und Gemüse aus dem nahen Amagi, ergänzt durch regionale Produkte wie Wasabi und Shiitake-Pilze.


Wie vom Winde verweht
Auf einer großen, gemaserten Holzplatte liegen kunstvoll zubereitete Vorspeisen. Jede für sich ein kleines Kunstwerk, doch zusammen wirken sie, als hätte der Herbstwind sie mit grünen Ahornblättern von einem Baum geweht. Im Kaiseki nennt man diese kunstvolle Vorspeisenplatte Hassun, das Prinzip der verstreuten, aber harmonischen Verteilung heißt Chirashi-Mori.

Moritsuke – alles hat seinen Platz
Atsuko Kato öffnet ihre Küche und führt uns in einen zentralen Aspekt des Kaiseki ein, der neben Textur, Geschmack und Saisonalität zählt: Moritsuke – die Kunst, Speisen ästhetisch und sorgfältig auf Tellern oder in Schalen zu arrangieren. Ziel ist es, ein harmonisches und ansprechendes Gesamtbild zu schaffen. Form, Farbe, Jahreszeit und das Zusammenspiel der Zutaten bestimmen dabei das Ergebnis. Oft zieren Blumen und Blätter die Gerichte. Innerhalb des Moritsuke gibt es verschiedene Techniken. Atsuko Kato demonstriert Yose-Mori: Hierbei liegen die Komponenten eng beieinander in der Mitte, ergänzen sich gegenseitig und bewahren dennoch ihre Eigenständigkeit.

Im Kaiseki-Menü eröffnen kleine Vorspeisen die Abfolge, gefolgt von Mukōzuke (Sashimi) und Takiawase (geschmortes Gemüse mit Rindfleisch, Fisch oder Tofu). Futamono, die klare Suppe in einer Schale mit Deckel, gehört unverzichtbar dazu. Yakimono steht für Gegrilltes, Mushimono für Gedämpftes, Sunomono für Essiggerichte. Den Hauptgang, Shokuji, bilden Reis, Misosuppe und eingelegtes Gemüse. Zum Abschluss serviert man Mizumono, ein leichtes Dessert, begleitet von einer Tasse Tee.

Erkenntnisse am Chabudai
Atsuko Kato schenkte uns ihre volle Aufmerksamkeit, und wir verwandelten ihre großzügige Gastfreundschaft in eine im Westen seltene Achtsamkeit gegenüber unserem Essen. Im Kaiseki, so lernte ich nach diesen Stunden an ihrem Esstisch, einem traditionellen Chabudai, reicht ein gutes Mahl weit über den Spruch „Das Auge isst mit“ hinaus. Hier verschmelzen Kochkunst, Ästhetik und Symbolik selbst auf dem kleinsten Teller und bestätigen immer wieder das Credo von Atsuko Katos Mann, dem Keramikkünstler, der seine Kunst bescheiden beschreibt: „Ein Gefäß ist erst vollendet, wenn es eine Speise trägt.“
Der Aufenthalt in der Prefektur Shizuoka wurde zum Teil vom Tourismusverband Shizuoka unterstützt