Der Weinbau erobert den Norden

Wenn der Wind vom Meer weht, freut sich Jakob Stokkebye über die salzige Luft, die seine Weinreben erreicht. Christoph Kühne-Hellmessen lobt die vielen Sonnenstunden auf Usedom, und Johan Öberg schwärmt von den für Schweden milden Wintern auf der Bjäre-Halbinsel am Kattegat. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte kaum jemand geglaubt, dass nördlich des 51. Breitengrads vielversprechende Weinregionen entstehen könnten. Doch die Klimaerwärmung bringt nicht nur Risiken, sondern manchmal auch Chancen. Während in klassischen Weinbauländern wie Frankreich oder Italien die steigenden Temperaturen den Anbau vieler Rebsorten erschweren, eröffnen sich in Dänemark, Schweden und Deutschland neue Möglichkeiten.

Das Meer ist auf Fünen nie weit weg. Davon profitieren auch die Winzer, denn die Erde, in der heute Rebstöcke stehen, ist reich an Mineralien. Aber hauptsächlich werden hier Weihnachtsbäume angebaut / © Foto: Georg Berg
Das Meer ist auf Fünen nie weit weg. Davon profitieren auch die Winzer, denn die Erde, in der heute Rebstöcke stehen, ist reich an Mineralien / © Foto: Georg Berg

Die Nordlichter unter den Winzern

Moderne, kälteresistente Rebsorten wie Solaris und Rondo sowie innovative Anbaumethoden treiben den Erfolg des Weinbaus im Norden voran. Experten sind sich einig: Der Klimawandel mit steigenden Temperaturen wird diesen Trend langfristig verstärken. Auch Investoren blicken interessiert Richtung Norden und zeigen Interesse an den säurebetonten, frischen Weinen der Region. Winzer nutzen kühlende Meereswinde und lange Tageslichtphasen, um hochwertige Weine zu schaffen. Sie setzen auf ökologische Praktiken und suchen nach einem unverwechselbaren Terroir, das die nördliche Herkunft der Weine betont. 

Wir reisten zu drei Weingütern, die den Pioniergeist des nordischen Weinbaus verkörpern. Auf der deutschen Ostseeinsel Usedom, in der schwedischen Region Skåne und auf der dänischen Insel Fünen trafen wir Winzer, die mit Fachwissen, Innovationsgeist und Engagement Weine von hoher Qualität produzieren.

Winzer Christoph Kühne-Hellmessen baut auf rund einem Hektar in Welzin auf der Insel Usedom den ersten Wein der Insel an. 2024 gab es erstmals Cuvée zu verkosten / © Foto: Georg Berg
Winzer Christoph Kühne-Hellmessen baut auf rund einem Hektar den ersten Wein auf Usedoml an. 2024 gab es erstmals Cuvée zu verkosten / © Foto: Georg Berg

Weinbau auf der Ostseeinsel Usedom

Im kleinen Dorf Welzin, auf einer Halbinsel zwischen Usedomer See und Stettiner Haff, liegt der Gutshof von Christoph Kühne-Hellmessen. Auf Usedom, bekannt für Kaiserbäder, breite Sandstrände und gesunde Seeluft, pflanzte der gelernte Landwirt den ersten Wein der Insel. Kühne-Hellmessen stammt aus Bayern. Vor 30 Jahren zog er mit Frau und Kindern an die Ostsee und tauschte die Berge gegen das Meer. Der Weinanbau ist für ihn kein Neuland. Im Gegenteil: Auf Sizilien, am Ätna, bewirtschaftete er einige Jahre ein Weingut. Alle fünf Wochen flog er von der Ostsee ans Mittelmeer. Doch während der Corona-Pandemie wurde das Winzern aus der Ferne schwierig. Kühne-Hellmessen beantragte daraufhin den Weinanbau auf einem Hektar Land auf Usedom. 2021 pflanzte er die ersten Rebstöcke. Schon 2024 brachte das Familienprojekt die erste Cuvée mit dem Namen „Kühn + Hell“ hervor.

Weinanbau auf der Insel Usedom. Rund 4.000 Pflanzen und sieben unterschiedliche Rebsorten hat Christoph Kühne-Hellmessen gepflanzt. 2024 wurde die erste Cuvée vorgestellt / © Foto: Georg Berg
Weinanbau auf der Insel Usedom. Rund 4.000 Pflanzen und sieben unterschiedliche Rebsorten hat Christoph Kühne-Hellmessen gepflanzt / © Foto: Georg Berg

Die kühnen Sieben von Welzin

Das Weingut Welzin setzt auf naturnahen Anbau. Die klimatischen Bedingungen auf Usedom – milde Winter, maritime Sommer und eine stetige Brise – schaffen eine gute Grundlage für den Anbau von pilzwiderstandsfähigen (PIWI-) Reben. Der erste Jahrgang vom originalen Usedomer Wein entstand im Gemischten Satz. „Auf dem selben Feld pflanzten wir 2021 sieben charakterstarke Rebsorten. Die geernteten Trauben von Sauvignac, Muscaris, Solaris, Rinot, Ravel blanc, Soreli und Fleurtai werden bei uns zu einem einzigen Wein verarbeitet,“ erklärt Christoph Kühne-Hellmessen.

Winzer Christoph Kühne-Hellmessen in seinen Weinreben auf der Insel Usedom. Er experimentiert mit sieben verschieden Rebsorten und den geschmacksbildenden Böden. Weinanbau hat der Landwirt auf Sizilien erlernt / © Foto: Georg Berg
Winzer Christoph Kühne-Hellmessen in seinen Weinreben auf der Insel Usedom. Er experimentiert mit sieben verschieden Rebsorten und den geschmacksbildenden Böden. Weinanbau hat der Landwirt auf Sizilien erlernt / © Foto: Georg Berg

So entsteht ein Naturwein, der das Terroir und die Meeresnähe widerspiegelt. Der Winzer betont: „Unsere Böden bieten Vielfalt: Endmoräne und Lehm, teils anmoorig, teils sandig. “ Christoph Kühne-Hellmessen steht im Rebfeld und schwärmt von den vielen Sonnenstunden auf Usedom, der sonnenreichsten Region Deutschlands mit 1900 Stunden. Diese Voraussetzungen, kombiniert mit seinen 40 Jahren Erfahrung im ökologischen Landbau, führten ihn zur biologisch-dynamischen Anbaumethode und mit dem Gemischten Satz zu einer Urform des Weinanbaus. Weingut Welzin auf Usedom

Weinanbau in Schweden: Thora Vingård

Auf der schwedischen Halbinsel Bjäre in Skåne führt Johan Öberg das Weingut Thora Vingård. Wie bei Christoph Kühnen-Helmessen ist es ein Familienprojekt. 2014 suchten Heather und Johan mit ihren vier Söhnen nach einem Ort, der Familie und Freunde vereint. Zuvor lebten sie viele Jahre in den USA. Sie entschieden sich für einen verlassenen Hof nahe dem Ferienort Båstad. Ein Nachbar experimentierte dort bereits mit Weinanbau. Der Kauf des Hofes erforderte die Bewirtschaftung der Flächen, und so wagten auch die Öbergs das Experiment mit Cool Climate Wein. 

Johan Öberg zeigt Foodjournalistin Angela Berg Pinot Noir Reben, mit denen 2014 der Weinanbau auf Thora Vinyard begann / © Foto: Georg Berg
Johan Öberg zeigt Journalistin Angela Berg Pinot Noir Reben, mit denen 2014 der Weinanbau auf Thora Vinyard begann / © Foto: Georg Berg

Schon um die Jahrtausendwende begannen erste Winzer in Südschweden mit Solaris-Anbau. Die Region bietet durch lange Sommertage und kühle Nächte ideale Bedingungen für pilzwiderstandsfähige Rebsorten wie Solaris und Regent. Auf Thora Vingård startete man jedoch mit Pinot Noir. Johan Öberg erklärt, dass das Klima am Kattegat den Trauben eine langsamere Reifung ermöglicht, was die Aromen verbessert.

Cool Climate Weine

Ein interessanter Fakt: Zwischen 950 und 1250 nach Christus herrschte in Europa eine ungewöhnlich milde Warmzeit. Die Wikinger besiedelten Grönland, und in Schottland wuchs Wein von unbekannter Qualität. Rund 1000 Jahre später begannen die ersten Winzer in Südschweden, Weißwein aus der robusten Rebsorte Solaris anzubauen. Die meisten schwedischen Weingüter umfassen ein bis zwei Hektar. Die Trauben reifen in etwa 100 Tagen, blühen im April und werden von Ende September bis Anfang Oktober geerntet. Solaris ist die am häufigsten angebaute Rebsorte in Schweden. Doch Winzerfamilien wie die Öbergs setzen auch auf Pinot Noir und Chardonnay. Der Wein profitiert hier von viel Sonne, während die Nähe zum Meer die Reben im Frühjahr vor Spätfrösten schützt. 

Johan Öberg, Winzer aus Båstad, Provinz Skåne, im Restaurant Flora, das zum Weingut Thora Vineyard gehört / © Foto: Georg Berg
Johan Öberg, Winzer aus Båstad, Provinz Skåne, im Restaurant Flora, das zum Weingut Thora Vineyard gehört / © Foto: Georg Berg

Die größte Herausforderung für Winzer ist der Vertrieb. In Schweden hält das staatliche Unternehmen Systembolaget das Monopol für den Einzelhandel mit alkoholhaltigen Getränken, um den Alkoholkonsum besser zu regulieren. Winzern stehen daher nur drei Vertriebskanäle offen: lizenzierte Staatsgeschäfte, Gastronomiebetriebe und der Konsum, aber bislang nicht der Verkauf, auf dem eigenen Weingut. Auf Thora Vingård bietet man Weinverkostungen in der Weinboutique an. 2024 eröffnete das Restaurant Flora mit einer großen Showküche aus Edelstahl, einer Fensterfront mit Blick auf die Weinberge und einem Fenster zur hochmodernen Keltereianlage, die erste Stahltanks enthält und noch viel Platz für Expansion bietet. Thora Vingård Halbinsel Bjärne

Weinanbau in Dänemark

Auf der dänischen Insel Fünen liegt das Weingut Stokkebye. Jakob und Helle Stokkebye gehören zusammen mit einer Handvoll weiterer Winzer zu echten Pionieren. Weinanbau in Dänemark gibt es seit rund 20 Jahren. 2009 begann Jakob Stokkebye mit ersten Pflanzungen. Er kommt aus der Gastronomie, ist top ausgebildeter Butler und Sommelier und betreibt nebenbei noch einen Kaviar-Handel.

Jakob Stokkebye präsentiert seine jüngste Weine. Hauptabnehmer der rund 20.000 Flaschen Jahresproduktion sind Sternerestaurants in ganz Dänemark / © Foto: Georg Berg
Jakob Stokkebye präsentiert seine jüngste Weine. Hauptabnehmer der rund 20.000 Flaschen Jahresproduktion sind Sternerestaurants in ganz Dänemark / © Foto: Georg Berg

Heute gehören die Stokkebye-Weine zu den besten Dänemarks. Der Weißwein Livia wurde schon mehrfach ausgezeichnet. Neu hinzu kamen in den letzten Jahren drei Hektar Pinto Noir. Die Ernte beginnt auf Fünen meist Mitte Oktober. Das Meer ist nur einen Kilometer weit entfernt. Vor 200 Jahren war es sogar noch genau dort, wo heute die Rebstöcke stehen, erklärt Jakob Stokkebye. Der Boden ist kalkhaltig und steckt voller Mineralien. Beim Aufbau seines Weinguts hat sich Jakob Stokkebye Beratung aus dem Rheingau geholt. Die Rebstöcke wurden zum Beispiel mit einem Abstand von 1.20 Meter gepflanzt. denn aufgrund der höheren Zahl an Regentagen brauchen die Pflanzen mehr Luft und somit mehr Abstand voneinander. Die warmen Sommertage und kühlen Nächte auf Fünen fördern die Entwicklung komplexer Aromen. Die Weine von Gut Stokkebye gehen an über zwanzig Michelin Star Restaurants. Die Produktion von rund 20.000 Flaschen pro Jahr werden fast vollständig von Restaurants in Dänemark abgenommen.

Angela Berg mit Winzer, Butler und Sommelier Jakob Stokkebye in der Neupflanzung von Pinot Noir Reben / © Foto: Georg Berg
Angela Berg mit Winzer, Butler und Sommelier Jakob Stokkebye in der Neupflanzung von Pinot Noir Reben / © Foto: Georg Berg

Die Zukunft der Cool-Climate-Weine

Die Geschichten dieser drei Winzer zeigen, wie der Weinbau in Nordeuropa neue Wege geht. Mit Wissen und Leidenschaft erzeugen sie Weine, die ihre Herkunft widerspiegeln und eine neue Weinkultur in nördlichen Regionen prägen. Liegt die Zukunft des europäischen Weins im Norden? Der hohe Zuckergehalt südeuropäischer Weine lenkt bereits die Aufmerksamkeit von Investoren nach Norden. Auch Fachkräfte zeigen sich flexibel. Johan Öberg berichtet, dass sie für die Arbeit auf Thora Vingård eine Stelle für ein Önologenpaar ausgeschrieben haben. Im Winter sei es hier zu dunkel und einsam – Gesellschaft sei nötig. Die Resonanz hat die Öbergs überrascht: 60 Paare wollten ihr Winzerglück im Norden versuchen. Die Wahl fiel auf ein junges, gut ausgebildetes Önologenpaar aus Frankreich. Es bleibt spannend, wie sich diese Regionen entwickeln – hoffentlich ohne den Antrieb eines Klimawandels, der den meisten Regionen der Welt schadet.

Roadtrip zu den Nordlichtern im Weinanbau

Hier ein Tipp, wie man die nördlichen Weinanbaugebiete zu einer reizvollen Roadtrip verbindet, ohne Strecken doppelt zu fahren. Unsere Route begann in der Mitte Deutschlands, führte über Kappeln an der Schlei in Schleswig-Holstein weiter nach Norden auf die dänische Halbinsel Fünen. Bei Kopenhagen überquerten wir die Öresundbrücke nach Schweden. Von Landskrona aus unternahmen wir mehrere Ausflüge in der Provinz Skåne, etwa nach Båstad, zur Halbinsel Bjärne, auf die Öresundinsel Ven und ins Naturschutzgebiet Kullaberg. Nach einer Woche in Skåne setzten wir vom Fährhafen Trelleborg nach Usedom über. Derzeit gibt es eine Fährverbindung nach Swinemünde in Polen.

Die Recherche wurde von Visit Landskrona und Usedom Tourismus unterstützt

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