Farina Bona ist das gute Mehl aus Vergeletto
Die Erinnerung an die Zeit der klappernden Mühlen im Onsernonetal im Tessin ist flüchtig. Schriftliche Aufzeichnungen gibt es kaum. Nunzia Terribilini, die letzte Müllerin von Vergeletto starb 1958. Niemand hat die Tradition von Farina Bona nach ihrem Tod weiterverfolgt. Viele Details müssen erst wieder mühsam erforscht und ausprobiert werden. Welcher Mais wurde verwandt? Wie lange wurde er geröstet? Wie fein war das Sieb? Das Originalprodukt Farina Bona gibt es nicht mehr. Erst 1991 wurde im Onsernonetal im Dorf Loco rund 15 Kilometer von Locarno entfernt, eine alte Mühle restauriert. Ein Museum hat heute die Geschichte der Mühlen und das besondere Mehl dieser Gegend zum Thema.
Der Lehrer mit dem langen Atem
Das kleine Museum hat auch das Interesse von Ilario Galbani an der fast vergessenen Spezialität seiner Heimat geweckt. Es hat aber noch viele Jahre gedauert, bis die entfachte Leidenschaft des Lehrers für das gute Mehl aus dem Onsernonetal in ein breitgefächertes Produktangebot münden sollte. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Menschen aus Vergeletto haben ihm dabei geholfen.
Mit der Zeit kam Ilario dem fast vergessenen Geheimnis von Farina Bona aus Vergeletto auf die Spur. Die besondere Aromatik, der fast schon betörende Duft, der sich überträgt auf das Backwerk, lag im Rösten der Maiskörner – bevor – sie gemahlen wurden.
Farina Bona und der Duft von Popcorn
Wir betreten die kleine Produktionshalle in Vergeletto. In der ehemaligen Turnhalle der Dorfschule hat Ilario seine Maschinen untergebracht. Es duftet nach Popcorn. Aber irgendwie vielschichtiger und würziger, als bei einer Tüte Popcorn im Kinosessel. In einer Kaffeeröstmaschine röstet Ilario für uns Maiskörner. Er weiß inzwischen, wenn rund 30 Prozent der Körner bei einer Temperatur von 200 Grad gepoppt sind, dann ist der Röstvorgang beendet. Mehr aufgepoppte Körner würden nicht mehr verführerische Röstaromen und Duft erzeugen, sondern das Mehl im Endprodukt bitter machen, erklärt Ilario. Früher haben die Müller den Roggen und später den Mais in großen Pfannen geröstet.
Heute besitzt Ilario Galbani neben seiner Röstmaschine noch weitere Produktionsmaschinen. Gerade fertigt eine kleine koreanische Maschine runde Cracker aus groben Farina Bona. Sie sind leicht gesalzen und werden als Knabberartikel für eine schweizer Supermarktkette verpackt. Im kleinen Lebensmittelladen im Ort gibt es alle Produkte, die Ilario im Sortiment hat: Farina Bona, Polentamehl, Cracker, Kekese und sogar Eis.
Schülerhilfe für die Wiederentdeckung von Farina Bona
So war es nicht immer, denn die Wiederentdeckung des Farina Bona zog sich in die Länge. Es mangelte zu Beginn an konkreten Rezeptideen. Mengenverhältnisse mussten ausgetestet werden. Geholfen hat dem Lehrer mit der Leidenschaft für gutes Mehl seine eigene Schulklasse. 2005 stellte Ilario den Schülern aus dem Onsernonetal eine besondere Aufgabe. Er gab ihnen kleine Mengen Farina Bona mit nach Hause und sie sollten sich Gerichte überlegen, in denen das traditionelle Mehl ihrer Heimat verwendet wird. Heraus kamen zahlreiche Rezeptideen für Suppen und Kuchen. Eine Rezeptentwicklung aus dieser Schulstunde hat es auf die Speisekarten der Restaurants bis hinab nach Locarno gebracht. Es ist ein Speiseeis mit Farina Bona und besteht aus Milch, Sahne, Zucker und nur zu fünf Prozent aus Farina Bona.
Der Weg vom Roggen zum Mais
Um 1850 erreichte der erste Mais das Tal. Viele Jahrhunderte lang stellten die Einwohner im Onsernonetal ihr Farina Bona aus Roggenmehl her. Davon gab es durch die vorhandene Strohindustrie mehr als genug, denn im 16. und 17. Jahrhundert wurden im Onsernonetal Körbe und Hüte aus Roggenstroh hergestellt. Der besondere Kniff, bei der Herstellung von Roggenmehl war das Rösten. So wurde das Mehl vor Schimmel bewahrt und lagerfähig für den langen Winter. Mit dem Bau einer grossen Straße erreichte der erste Mais aus der Lombardei das Onsernonetal. Die Einwohner begannen mit dem Mais so zu verfahren, wie sie es mit dem Roggen gewohnt waren. Erst rösten, dann mahlen.
Der Parco dei Mulini in Vergeletto
Zu Spitzenzeiten gab es im Onsernonetal 20 Mühlen, davon fünf in Vergeletto. Sie bilden als Ensemble heute den Parco dei Mulini Vergeletto. Alle Mühlen sind in ganz unterschiedlichem Zustand erhalten. Eine Treppe führt den Berg hinauf. Tafeln erinnern an die Hochzeit der Mühlen. Das Wasser rauscht heute noch. Es stürzt vom 2.300 Meter hohen Pizzo Cramalina hinab ins Tal.
Die Mühlen im Onsernonetal
Teils sind es Rohre, teils ausgehöhlte Baumstämme, die das Wasser zu den Mühlen führen. Die untere Mühle hat Ilario für seine Produktion wieder in Stand gesetzt. Zur Erinnerung an die Zeit der Strohproduktion trägt er stets einen feinen Strohhut. Ilario klettert die kleine Holzleiter hinauf. Komfortabel ist es hier neben dem Mahlwerk nicht mehr. Die Räume der alten Mühle sind viele Jahre anderweitig genutzt worden. Jetzt ist der Raum nicht mehr so hoch wie früher und wenn er den Sack mit den goldenen und gerösteten Maiskörnern in den Trichter füllt, muss er den Kopf einziehen.
Von innen lenkt er durch einen Hebel das Wasser draußen auf das Mühlrad. Ilario entsichert den Mahlstein und ganz langsam kommt Bewegung in das Mahlwerk. In den spärlichen Aufzeichnungen von Nunzia Terribelini, der letzten Müllerin von Vergeletto, ist die Produktionsmenge von einem Kilo pro Stunde für diese Mühle vermerkt. Das ist sehr wenig, aber es ist der Härte der Maiskörner geschuldet.
Für das Mehl benutzt Ilario ein Sieb mit unterschiedlichen Feinheitsgraden. Durch die Abstufungen fängt er zeitgleich feines, mittleres und grobes Mehl auf, das für unterschiedliche Produkte verwendet wird. Die Mühle von Vergeletto ist eine Art offenes Denkmal. Hier können Besucher an jedem Tag vorbeischauen und alles selbständig besichtigen. Jeden Dienstag bietet Ilario Galbani auch Führungen in Kombination mit einer kleinen Verkostung an.
Die Verwendung von Farina Bona in der Küche
Das seidige, feine Farina Bona wird beim Backen gerne mit Weißmehl gemischt. Es ist so intensiv im Geschmack, dass ein Verhältnis von ¼ Farina Bona zu ¾ Weissmehl oder anderer Mehlsorten wie Dinkel genügt. Ein Rezept aus alten Tagen beschreibt das Einrühren von Farina Bona in heiße Milch und dazu noch ein paar frische Früchte wie Heidelbeeren oder Brombeeren. Ilario selber isst Farina Bona am liebsten im Glacé oder klassisch in warmer Milch verrührt. Auch andere Produzenten haben begonnen, mit Farina Bona zu experimentieren. So gibt es in der Region auch ein mit Farina Bona verfeinertes Weizenbier. Ilario freut sich über jede gut gemachte Produktinnovation. Denn so wird es gelingen, diese Spezialiät aus dem Onsernonetal für die Zukunft zu erhalten und es vor einer weiteren Phase des Beinah-Vergessens bewahren.
So klein die Welt von Vergeletto und die Geschichte des Farina Bona ist, so groß ist das Wissen, das Ilario Galbani mit den Jahren zu diesem Thema zusammengetragen hat. Im Gespräch berichtet er, dass es auf der Welt einige Verwandte des Farina Bona gibt. Auf den Kanarischen Inseln nennt man es Gofio. Es setzt sich aus Getreide, Hülsenfrüchten und etwas Salz zusammen. Im Nepal und im Tibet ist es ein Grundnahrungsmittel, nennt sich Tsampa und wird aus gerösteter Gerste, manchmal auch aus Reis oder Weizen hergestellt.
Wir verlassen Vergeletto und den Parco dei Mulini mit einem Paket Farina Bona für private Kochexperimente. Beim Mittagessen im legendären Grotto America in Ponte Brollo fällt uns auf der Karte prompt das Glacé mit Farina Bona ins Auge und eine Kugel dieser ganz besonderen Tessiner Spezialität rundet das Mittagessen ab.
Kulinarischer Nachschlag von Angela Berg
Farina Bona, das kostbare Mehl aus Vergeletto ist mittlerweile in meiner Küche angekommen. Ich bewahre es in einer Blechdose auf. Jedes Mal, wenn ich den Deckel öffne, strömt mir dieser simple und zugleich sinnliche Duft entgegen. Obwohl meine Vorräte schwinden, kann ich es nicht lassen und gebe jeden Morgen einen Teelöffel in den Topf zu meinem Frühstücks-Porridge. Das Tessiner Popcorn-Elexier ist eine echte Aufwertung für das ursprünglich aus Schottland stammenden Arme-Leute-Essen.
Die Recherchereise wurde vor Ort teilweise von Schweiz Tourismus unterstützt