In der Silvesternacht erreichte Paula Modersohn-Becker Paris. Anfang zwanzig und fest entschlossen, Malerin zu werden, trug sie vermutlich ihre besten Kleider, etwas Bargeld und Zeichenutensilien im Gepäck. Mobiltelefon, Kreditkarte und Rollkoffer? Fehlanzeige. Ein schräger Vergleich drängt sich mir auf: Die Netflix-Serie Emily in Paris zeigt die extrovertierte Emily aus Chicago, die ohne Ahnung von französischer Kultur und Sprache mit Selfies in Designer-Outfits schnell zum Instagram-Star wird. Diese unerschrockene, neugierige und positive Emily erinnert mich an die junge Paula Becker, die am letzten Tag des 19. Jahrhunderts eine weitaus wagemutigere und reale Reise antrat. Schon 1900 ging es bei Paula um Emanzipation, Selbstverwirklichung und Selbstporträts. Heute gilt sie als Superstar der Malerei. 1927 widmete man ihr als erster Frau ein eigenes Museum, da war sie bereits seit 20 Jahren tot. 2024 erhält sie endlich ihre erste große Retrospektive in den USA. Das Art Institute Chicago zeigt über 50 ihrer Werke, darunter ihr berühmtestes Selbstporträt.
Paula in Chicago
Trotz ihrer Bedeutung für die Kunstgeschichte und ihrer posthumen Stellung als feministische Ikone sah man Paula Modersohn-Becker in den USA noch nie in einer Retrospektive. Diese Ausstellung präsentiert erstmals umfassend ihr Werk in diesem Land. Sie zeigt die ganze Bandbreite ihres Schaffens, das tragisch 1907 im Alter von nur 31 Jahren endete. Sie starb an einer Embolie nach der Geburt ihrer Tochter Tille. Das Art Institute Chicago zeigt vom 12. Oktober 2024 bis zum 12. Januar 2025 über 50 Gemälde, 15 großformatige Zeichnungen und fünf Radierungen. Im Sommer 2024 war die Retrospektive bereits in New York zu sehen.
Eines ihrer bekanntesten Selbstbildnisse zeigt Paula an ihrem sechsten Hochzeitstag, dem 25. Mai 1906, halb nackt mit angedeutetem Schwangerschaftsbauch. Es ist das erste nackte Selbstporträt einer Malerin in der Kunstgeschichte. Paula malte es während ihres vierten Paris-Aufenthalts, getrennt von ihrem Ehemann Otto Modersohn, während sie sich mit Schwangerschaft und Geburt auseinandersetzte, selbst aber nicht schwanger war. In Deutschland sind ihre Werke vor allem in Bremen und Worpswede zu sehen.
Paula in Worpswede
Seit Wochen lehnt eine Postkarte an meinem Rechner, die eines ihrer frühen Selbstporträts zeigt, gemalt 1900 während ihrer ersten Paris-Reise. Ihr Blick ist selbstbewusst, die Lippen geschlossen. Sie trägt eine dunkle Bluse mit weißer Schluppe. Im Hintergrund deuten Flächen die typischen hellen Häuser von Paris an. Die Stadt scheint ihr den Rücken zu stärken. Mit ihrem innovativen Stil, der Ausdruck über Darstellung stellte, wurde sie zur Vorreiterin des Expressionismus. Unter mehr als 700 Gemälden, rund 1.400 Zeichnungen und elf Druckgrafiken ragen ihre Darstellungen von Kindheit, Mutterschaft, Schwangerschaft und Alter heraus. Paula Modersohn-Becker ist vor allem für ihre zahlreichen Selbstporträts bekannt.
Zu Lebzeiten verkaufte sie, soweit bekannt, nur fünf Bilder, eines an den Dichter Rainer Maria Rilke. Die beiden lernten sich 1900 in Worpswede kennen. Erst 1906 nahm Rilke sie als Künstlerin wahr und schrieb: „Das merkwürdigste war, Modersohns Frau in einer ganz eigenen Entwicklung ihrer Malerei zu finden, rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge, die sehr worpswedisch sind und die noch nie einer sehen und malen konnte. Und auf diesem ganz eigenen Wege sich mit van Gogh und seiner Richtung seltsam berührend.“ Rilke bestärkte sie 1906 in ihrem Wunsch, nach Paris zurückzukehren. Er kaufte eines ihrer Bilder, um die Reise zu finanzieren. Auf dieser letzten Paris-Reise besuchte sie den Bildhauer Bernhard Hoetger, der von ihren Arbeiten begeistert war. Sein Zuspruch beflügelte sie, von 1906 bis 1907 insgesamt 90 Gemälde zu schaffen. 1906 schrieb sie an Rilke: „Und jetzt weiß ich nicht, wie ich meinen Namen schreiben soll. Ich bin nicht mehr Modersohn und ich bin nicht mehr Paula Becker, ich bin Ich, und hoffe das immer mehr zu werden.“
Im November 1907 stirbt Paula Modersohn-Becker in Worpswede. Ihr Grab ist auf dem Friedhof der Zionskirche. Spuren ihrer Zeit in der Künstlerkolonie Worpswede finden sich vor allem in ihrem damaligen Wohnhaus, das heute Museum ist und auch in der Zionskirche.
Paula in Bremen
Das Paula-Modersohn-Becker Museum in Bremen ist das weltweit erste Museum für eine Malerin. In Auftrag gegeben hat es der Kaffee HAG-Gründer und Mäzen Ludwig Roselius. Gebaut wurde es 1927 von Bernhard Hoetger, der sie 1906 in Paris zu ihrer letzten kreativen Schaffensphase beflügelte. In dem expressionistischen Backsteinbau zeigt man Werke aus allen Schaffensphasen der Künstlerin. In Bremen konzentriert sich ein großer Teil ihres Werkes. Die Sammlung des Museums, der Bestand der Paula Modersohn-Becker-Stiftung und die Bestände der Kunsthalle Bremen.
Mehr über die Malerin Paula Modersohn-Becker
- Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen
- Art Institute Chicago, „I am Me“, Oktober 2024 bis Januar 2025, Chicago
- Museum am Modersohn-Haus, Die Alten Worpsweder Meister, Worpswede
- Kunsthalle Bremen, Sammlung Kunst der Moderne, Bremen
Büste von Paula Modersohn-Becker. 1899 geschaffen von ihrer Freundin, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff / © Foto: Georg Berg
Die Recherche wurde unterstützt vom Bremen Tourismus und Worpswede Touristik