Es gibt keine bessere Gelegenheit, die architektonische Vielfalt Chicagos kennenzulernen, als während Open House Chicago. Jedes Jahr im Oktober bietet die Veranstaltung Chicagoern und Touristen Zugang zu mehr als 150 Gebäuden in über 20 Stadtvierteln. Ganz gleich, ob man ein Fan minimalistischer Büroarchitektur oder ein Liebhaber historischer Wolkenkratzer ist, Open House Chicago gewährt Zugang zu einigen der spektakulärsten Bauwerken der Stadt.
Chicago, Geburtsort der Wolkenkratzer
Eine Katastrophe hat das moderne Chicago geprägt. Am 8. Oktober 1871 brach ein verheerendes Feuer aus, das drei Tage wütete und einen Großteil der Stadt zerstörte. 18.000 Gebäude fielen den Flammen zum Opfer, darunter das prunkvolle Palmer House, das erst wenige Tage zuvor eröffnet hatte. 100.000 Menschen wurden obdachlos. Rasch musste neuer Wohnraum entstehen, und kühne Architekten bauten erstmals in die Höhe. Chicago war damals vor allem für den größten Schlachthof der Welt bekannt. Tausende Arbeiter schlachteten Schweine und Rinder am Fließband. Diese Fließbänder in den Union Stockyards inspirierten Henry Ford später zur industriellen Automontage in Detroit.
Innenansichten einer Stadt: Open House Chicago
Das Chicago Architecture Center organisiert das jährliche Open House Chicago (OHC). Dieses kostenlose Festival bietet Einblicke in architektonisch, historisch und kulturell bedeutende Orte Chicagos. Zudem finden an dem Wochenende über 40 Veranstaltungen statt, darunter Vorführungen, Vorträge und Kunstaufführungen. Ob Börse, Notenbank, exklusiver Club oder Wohnhaus, Open House Chicago ermöglicht den Zugang zu Orten, die man sonst nur aus Filmen oder Zeitungen kennt. So auch das Central Standard Building, das gegenüber der Federal Reserve Bank of Chicago steht. Diese neoklassizistischen Zwillinge bewachen die Hauptkreuzung des Finanzviertels. Am OHC-Wochenende betreten Besucher die riesige Bankenhalle im zweiten Stock und den einst größten Tresorraum Chicagos.
Schlange stehen und effektiv bleiben
In Downtown Chicago stehen einige der schönsten Art-Déco-Wolkenkratzer der Welt. Hier, wo sich die meisten Touristen aufhalten, ist das Interesse am OHC besonders groß. Die Veranstaltung ist kostenlos, doch etwas Vorbereitung lohnt sich. Eine App des Chicago Architecture Centers zeigt die teilnehmenden Gebäude je Stadtteil. Übersichtskarten auf Papier gibt es der Umwelt zuliebe nicht mehr. Die Favoriten in der App lassen sich leider nicht offline abspeichern und mit Google Maps verwenden, was es internationalen Besuchern ohne Daten-Roaming erschwert, sich in den Straßenschluchten zu orientieren.
Im Jahr 2024 nehmen 38 Gebäude in Downtown Chicago an Open House Chicago teil, darunter das ikonische Wrigley Building. 1920 im Auftrag von Kaugummi-König William Wrigley Jr. erbaut, dient es bis heute als Bürogebäude. Nur Angestellte gelangen von der eindrucksvollen Lobby in die oberen Etagen. Doch beim OHC gibt es einen Freifahrtschein ins ehemalige Kaugummi-Headquarter. Doch aufgepasst: auf der OHC-Liste versteckt es sich als Perkins and Will, denn das Design- und Architekturbüro hat dort jetzt seine Büroräume und lädt zum spektakulären Blick über die Michigan Avenue ein.
Über Open House Chicago (OHC)
Seit 2011 gehört OHC zum globalen Netzwerk der Open-House-Veranstaltungen. 2024 öffnet OHC am 19. und 20. Oktober seine Türen. Die Veranstaltung lädt nicht nur Touristen, sondern vor allem Einheimische ein, neue Stadtteile zu erkunden, die Architektur Chicagos zu entdecken und die Vielfalt und Kultur der Gemeinden zu erleben. Rund 2.600 Freiwillige betreuen die teilnehmenden Gebäude.
Tipps rund um Open House Chicago
- OHC 2024 findet am 19. und 20. Oktober statt
- Favoriten festlegen, denn mehr als 8 bis 10 Gebäude schafft man pro Tag nicht
- Bei der Planung hilft My OHC
- Es gibt keine einheitlichen Öffnungszeiten, daher im Steckbrief der teilnehmenden Gebäude checken, welches Gebäude wie lange geöffnet hat
- Manche Gebäude nehmen nur an einem von zwei Tagen am OHC teil
- Mindestens 30 Minuten vor Ende am entsprechenden Gebäude sein, sonst verpasst man ggfs den letzten Timeslot
Ganzjährig zu bewundern: Aqua Tower und The St. Regis
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Wolkenkratzer in Chicago immer uniformer. Es setzten sich die kalten und sterilen von Rechtecken dominierten Glasfronten ausnahmslos männlicher Architekten durch. Der Willis Tower von 1974 konnte nochmal einen Rekord erzielen und war für eine Weile mit 442 Metern das höchste Gebäude der Welt. Heute zieht der klotzige Bau viele Besucher an, die auf dem Skydeck in der 103. Etage in schwindelerregende Tiefe blicken wollen.
Erst 2009, nach Protesten der Chicagoer gegen einen weiteren phantasielosen Koloss in bester Lage, entstand der erste von einer Frau entworfene Wolkenkratzer. Die Architektin Jeanne Gang bewies, dass es anders geht. Ihr Aqua Tower wirkt, als gleite eine Meereswelle über die Fassade. 2020 übertraf Jeanne Gang ihren eigenen Rekord: Der St Regis Tower, mit 365 Metern Höhe, wurde nach ihren Plänen fertiggestellt. Die drei blau-grün schimmernden Türme wirken grazil, und zwei leere Etagen im höchsten Turm lassen den Wind hindurch, was den Druck auf das Gebäude mindert.
Der weibliche Blick: Von Architektin Jeanne Gang bis Fotografin Vivian Maier
Ein genauerer Blick auf den Aqua Tower lohnt sich noch aus einem weiteren Grund. Dieser liegt ein wenig im Verborgenen, genauso wie es die Fotografin Vivian Maier ihr Leben lang tat. Vivian Maier ist die große Unbekannte der Fotografiegeschichte. Ihre großartige Fotokunst wurde erst nach ihrem Tod entdeckt. Sie fotografierte fast fünf Jahrzehnte lang wie besessen. Doch niemand bekam diese Fotos zu Gesicht, auch sie selbst nicht, denn ihr fehlte das Geld, um die Filme entwickeln zu lassen. In der Lobby des Radisson Blu Aqua im Aqua Tower hängen zehn ihrer Bilder aus dem Chicago der 1950er- und 1960er-Jahre. Absolut sehenswert, vor allem weil es in Chicago noch keine Dauerausstellung mit Fotografien von Vivian Maier gibt. Die Suche nach Vivian Maier und die akribische Recherche ihrer Biografin Ann Marks haben zahlreiche Puzzlesteine der problematischen Lebensumstände Vivian Maiers ans Licht gebracht. Ende 2023 erschien das Buch Das Leben der Vivian Maier. Die Nanny mit der Kamera. Hier geht es zu unserer Buchrezension Ein Leben durch den Sucher.
Ganzjährig zu sehen
Open House Chicago bietet einmal im Jahr ganz besondere Einblicke in die Windy City. Spannendes Sightseeing am Chicago Riverwalk und auf dem Chicago Pedway sind jederzeit möglich. Noch eine gute Nachricht für alle Foodies: In Chicago muss niemand in Fast-Food-Ketten essen. Drei Foodtipps, die Essen mit Kultur und Geschichte verbinden. Von fiktiven Sandwichbuden bis zur Queen of Chicago.
Die Recherche wurde von Choose Chicago unterstützt