Käsefondue oder Raclette? Oder gar beides? Und was gab es zuerst? Das Käsefondue gilt in der Schweiz als Nationalgericht. Diesen Status verdankt es einer Marketingkampagne der Schweizerischen Käseunion. Zum Ankurbeln des inländischen Käsekonsums wurde nach dem Zweiten Weltkrieg den Schweizern das Käsefondue schmackhaft gemacht.

Wer hat’s erfunden? Natürlich die Schweizer!
Das Raclette hat einen viel früheren Ursprung. Erste Erwähnungen liegen mehr als 400 Jahre zurück. Die Entstehung des Raclette punktet auch beim Thema Alpenromantik. Sie überzeugt mit weitaus mehr zartem Schmelz als die staatlich verordnete Fondue-Kampagne. Hirten, so heisst es, legten einen viertelgroßen Käselaib an die Glut ihres Lagerfeuers. Sobald die Schnittkante zu schmelzen begann, nahmen sie den Käse in die Hand und schabten mit einem Messer den flüssigen Käse auf das Brot. So nahm das Raclette, abgeleitet aus dem französischen Wort racler für schaben in den Walliser Bergen seinen Ursprung. Erst vier Jahrhunderte später wurde es in kleinen Teflon beschichteten Pfännchen domestiziert und so zur ritualisierten Geselligkeitsspeise an Weihnachten und Silvester.
Raclettekäse rund ums Jahr
Während man in anderen Regionen der Schweiz und im Rest der Welt das Raclettegerät nach Silvester wieder in den Keller stellt, findet man im Wallis den Racletterkäse das ganze Jahr im Sortiment. Auf jedem Dorffest wird Raclettekäse gestrichen. Kommen spontan Gäste zu Besuch, ist das Raclette eine höchst unaufwändige Mahlzeit. Kartoffeln und ein halber Käselaib genügen, um mehr als 10 Personen satt und glücklich zu machen. Menschenansammlungen in diesem Ausmaß sind zum Jahreswechsel 2020 zwar schwer vorstellbar, aber für die Zukunft wieder wünschenswert.

Schaukäserei und Raclette-Praktikum
Die Augstbordkäserei in Turtmann, einer kleinen Ortschaft zwischen Visp und Sion im Walliser Rhonetal, produziert Raclettekäse aus Rohmilch. Die Milch stammt von Kühen aus dem Umland. Sie stehen auf Wiesen in einer Höhe zwischen 600 und 1.600 Metern, fressen saftiges Gras mit ordentlich viel Alpkräutern und legen somit die Grundlage für die Walliser Spezialität. Rohmilch zu verarbeiten bedeutet schnell zu sein, denn Rohmilch muss innerhalb von 24 Stunden verarbeitet werden. An Spitzentagen entstehen in der Augstbordkäserei 330 Käselaibe am Tag. Pro Jahr sind das 320 Tonnen Raclette Schnittkäse. In den Handel kommt der cremige und nach Alpkräutern duftende Käse erst nach 90 Tagen Reifung. Dann trägt er den Namen Wallis 65 und bekommt zudem das AOP Siegel für seine geschützte Herkunft. Für Fans des weit verbreiteten Pfännchen-Raclettes, die bislang nur vorgeschnittene und abgepackte Supermarktware kennen, ist Raclettekäse aus dem Wallis eine echte Offenbarung.

Simpler Dreiklang: Käse – Kartoffel – Gürkchen
Oft sind die einfachsten Dinge die besten. Die simple Zubereitung und überschaubare Zutatenliste sind eine weitere Erklärung für die Beliebtheit von Raclette und Käsefondue. Zur Raclette-Etiquette gehört es, auf keinen Fall zu warten, damit alle gleichzeitig essen können. Es gilt, der eine isst, der andere spricht. Denn der Käse, der gerade noch blasenwerfend und cremig-glänzend vom Käselaib gestrichen wurde, soll möglichst warm verzehrt werden.

Raclettekäse wird gegessen, solange er warm ist. Nur für denjenigen am Raclette-Ofen gilt, nicht zu viel Zeit mit dem Rallen, also Schwatzen, zu verbringen. Wenn der Käse anfängt zu sprudeln, ist es höchste Zeit, ihn in die Hand zu nehmen und mit einem Messer von oben nach unten in einem Rutsch durch auf den darunter platzierten Teller zu streichen. Bei einem Profi wie Marcel Ammann, dem Präsidenten der Augstbordkäserei, sieht das kinderleicht aus. Die Käserei in Turtmann bietet auch Raclette-Workshops an, in denen man die verschiedenen Raclette-Öfen kennenlernt und vor allem den geschmeidigen Umgang mit geschmolzenem Käse.

Als magenfreundliche Portion gelten übrigens 200 bis 300 g pro Person. Zur Kategorie Ammenmärchen gehört, dass ein nachgelagerter Schnaps die Verdauung erleichtert. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Von Cholera und anderen Plagen
Bei einer Reise durch das Wallis kommt man am Thema Käse nicht vorbei. Das Walliser Rhonetal ist geradezu übersät mit Käsereien und guten Käsegeschäften. In den Restaurants kann man Raclette, Käsefondue und andere Spezialitäten probieren. Die trauen sich was! Denke ich mir im Corona-Jahr 2020 beim Blick auf die Speisekarte in einem Lokal in Visp. Hier wird Cholera als regionale Spezialität aufgeführt. Das macht neugierig, wird bestellt und vom Service ausgiebig annonciert.

So weiss ich nun, dass dieses kulinarisch anspruchslose Gericht aus der Zeit stammt, als im Land die Cholera wütete. Damals durften Cholerakranke ihr Haus nicht verlassen. Das klingt auch heute wieder bekannt. Lieferando war noch nicht erfunden und so wurde zusammengemengt, was noch im Haus vorhanden war. Käse, Brot und etwas Gemüse. Alles in eine Art Fladen geflochten und im Ofen gebacken.
Geschmacklich würde ich ein echtes Walliser Raclette, bestehend aus Käse und Kartoffeln dem Gericht epidemischen Ursprungs aber immer vorziehen. Insbesondere weil die Restaurantvariante mit fadem Blätterteig arbeitet. Trotzdem ein humorvoller und lässiger Umgang mit einer echten Menschheitsplage. So wäre es doch schön, wenn wir das Wort Corona in naher Zukunft nicht mehr in jeder Schlagzeile lesen, sondern allenfalls dort, wo es nie unangenehm aufgefallen ist, in der Getränkekarte beim Mexikaner. Prosit Neujahr!
Die Recherchereise wurde vor Ort teilweise von Schweiz Tourismus unterstützt