Chefkoch José Graziosi schwärmt von „Il Carraturo“ seinem liebsten Küchengerät
Die Bekanntschaft mit José Graziosi mache ich in Devonshire, im Vereinigten Königreich kurz bevor Brexit und Corona Europa durchrütteln. Er ist Chef de Cuisine im Hotel Endsleigh. Das denkmalgeschützte Anwesen wurde 1814 für den Herzog von Bedford als Jagd-Lodge errichtet und ist eingebettet in einen 40 Hektar großen Märchenwald am Rande des bekannten Naturschutzgebietes Dartmoor.
Der Garten von Endsleigh bietet auch dem Küchenteam des Hotels eine reiche Quelle an Zutaten. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass mein erstes Treffen mit José Graziosi nicht in der Hotelküche stattfindet, sondern mitten in einem Meer aus Bärlauchblüten. Verwunderlich dagegen ist das Holzkästchen, das José Graziosi sich unter den Arm geklemmt hat.
José Graziosi – der Name kommt mir spanisch vor – klingt aber auch italienisch. Und genauso ist es auch. Seine Mutter ist Spanierin, der Vater Italiener. Aufgewachsen ist er in Italien. Der Liebe wegen geht er nach Großbritannien. Bevor José Graziosi nach Endsleigh kommt, arbeitet er unter anderem sechs Jahre für den englischen Sternekoch Rick Stein in Padstow, Cornwall. Jeden Arbeitstag beginnt José Graziosi auf Endsleigh mit einem Garden Walk, denn hier findet er immer Wildkräuter, die er in die Tageskarte einbindet. Zum Beispiel wilder Sauerampfer, der zwischen dem Bärlauch wächst. José Graziosi bezeichnet sich selbst als Nature Boy.
Eine Kochschule im Kloster
Seine Ausbildung absolvierte José Graziosi im Konvent Santa Maria in den italienischen Abruzzen. In dieser Klosterschule für Jungköche, erzählt er, hat ein strenges Regiment geherrscht. Frauen und Männer leben dort getrennt ohne irdische Ablenkung und in voller Konzentration auf die reine Kunst der Kulinarik. Aus dieser Zeit besitzt José ein Kücheninstrument, das ihn auf all seinen Karrierestationen in Italien und später im Ausland, begleitet hat. Es ist eben jenes schlichte Holzkästchen, das er zum Gespräch mitgebracht hat. Stolz zeigt er die Carraturo, so wie ein Violinist seine Stradivari.
Die Gitarre der Abruzzen
Das Instrument sieht aus wie eine sehr schlichte Gitarre, ist aber „Il Carraturo“ der Urtyp der Nudelmaschine. Erfunden um 1800 in den Abruzzen. Der Name Carraturo leitet sich aus einem Dialekt Mittelitaliens ab und meint den Vorgang, wenn aus dem Teigblatt lange schmale Nudeln hergestellt werden. Aufgrund der Ähnlichkeit mit einer Gitarre sprechen die Abruzzesen auch von „Pasta a la Guitarra“. Bis heute nutzt José Graziosi die Carraturo beruflich wie privat und ist begeistert. Denn das Gerät ist einfach und genial zugleich. „Die einzige Wartung besteht im gelegentlichen Strammziehen der Drähte. Wie beim Stimmen einer Gitarre“, schwärmt er. Das Gerät wäre keinesfalls in Vergessenheit geraten, sondern würde von immer mehr Köchen geschätzt. In den Abruzzen findet man eine Carreturo neben Pasta, Käse und Olivenöl im Feinkostladen für unter 20 Euro zu kaufen.
Perfekte Pasta und der Klang der Carraturo
Wie José auf den Saiten dieser Küchenmaschine spielt, zeigt uns der Pasta-Virtuose etwas später in der Hotelküche. Spontan nimmt er Sepia Nudeln auf die Tageskarte, denn die demonstrative Nudelproduktion soll ja nicht für nichts sein. Ob es ein Geheimnis gibt, für den perfekten Nudelteig? frage ich ihn. „Der größte Fehler, den man machen kann, wenn man sich an einen selbstgemachten Pastateig begibt, ist ihn zu feucht zu halten. Das gibt große Probleme in der Weiterverarbeitung“, sagt José. „Am wichtigsten ist es, sich an das Rezept zu halten und stets beste Zutaten zu nehmen. Zudem braucht der Teig Zeit,“ erklärt er. Vor der Weiterverarbeitung ruht er für mindestens 30 Minuten im Kühlschrank. Alle diese Regeln wurden augenscheinlich bei dem vorbereiteten tiefschwarzen Pastateig befolgt. Der Teig sieht geschmeidig aus. Einige Male wird er durch die Walze gezogen, bis er die richtige Dicke und auch Breite hat.
Die Arbeitsfläche und die antike Maschine werden gut mit Mehl vom Typ 00 bestäubt. Der ausgewalzte Teig wird schwungvoll auf die Carraturo gelegt. Mit einem Nudelholz drückt José den Teig durch die Drähte. Feine Streifen fallen auf die schräge Holzfläche und rutschen dann auf die Arbeitsfläche. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt bis genügend Tagliatelle geformt sind.
Damit die Nudeln bis zur weiteren Zubereitung nicht verkleben, werden sie nochmals mit Mehl bestäubt um später dann à la Minute in Salzwasser gekocht zu werden. José nimmt nach der Vorführung ein Häufchen Pasta in die Hand und meint verschmitzt: „Tagliatelle à la guitarra.“
Dann frage ich ihn noch nach seinem liebsten Pastagericht. Wie so oft kommt bei kulinarischen Kindheitserinnerungen die Großmutter ins Spiel. José denkt dann an seine Nonna Stella, die an Sonntagen oft Eiertagliatelle mit Lammragout zubereitet hat.
Beim Dinner gibt es für uns dann ein Wiedersehen mit den Sepia-Nudeln, deren Herstellungsprozess wir verfolgen durften. Die Nudeln werden mit Krabbenfleisch und wildem Sauerampfer aus dem Garten kombiniert. Sie haben eine intensive, aber trotzdem angenehme Schärfe, die durch ein selbstgemachte Chili-Öl erreicht wird.
José Graziosi ist mit seiner Carraturo inzwischen weitergezogen. Er arbeitet nicht mehr als Chefkoch in Hotel Endsleigh, sondern als Privatkoch und organisiert Cooking Classes und Events. In der Küche von Endsleigh benutzten sie nun nicht mehr die Urmutter der Nudelmaschine, aber weiterhin viele Kräuter aus dem weitläufigen Park. Für alle Fans der englischen Gartenkultur ist dieser Ort ein echter Geheimtipp. Das weitläufige Gelände mit Follies, Grotten und Gartenpavillons ist das letzte Werk von Englands großem Gartenarchitekten Humphrey Repton.
José Graziosi und die Küche von Endsleigh
Hotel Endsleigh im Märchenwald von Devon
Luxus und Landleben im Hotel Endsleigh
Kulinarischer Nachschlag von Angela Berg
Die wilden Kräuter sind ein großes Thema in der Küche von Hotel Endsleigh. So begegnet mir hier auch der Sauerampfer. Er wächst in großer Menge mitten im Bärlauchteppich und José hat bei unserem Treffen im Garten gleich ein Bündel „Sorrel“ für das Abendmenü geerntet. Der Sauerampfer als Gemüse ist mir sehr vertraut. Die Lieblingssuppe in unserer Familie ist eine Sauerampfersuppe. Das Rezept der original British Sorrel Soup führte meine Schwiegermutter nach einem Besuch in England ein. Dort jubelte sie – 1953 – Queen Elisabeth anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten zu. Wieder zuhause pflanzte sie umgehend Sauerampfer im Garten und die Suppe wurde zu einer treuen Vorspeise unzähliger Drei-Gang-Menüs in ihrem Haus. Erst kurz vor ihrem Tod 2015 bekam ich das Rezept ausgehändigt. Der Fortbestand der Suppentradition ist somit gesichert und das Rezept samt geheimer Zutat ist nachzulesen auf der Internetseite meines Feinkostladens Peter sei selig – Genusspunkt Küche.
Die Kosten der Halbpension wurden vom Hotel nicht berechnet