Von Protzstollen bis Stollenknigge

Jedes Jahr im Oktober, wenn die letzten Zugvögel das Land verlassen, beginnt in Dresden und Umgebung das große Backen. Denn in der Vorweihnachtszeit werden fünf Millionen Original Dresdner Christstollen in 190 Länder der Welt verschickt. Dafür sorgen mehr als 100 Stollenbäckereien im Großraum Dresden. Die Markenbekanntheit des Dresdner Christstollens liegt in Deutschland bei über 80 Prozent. Das Original erkennt man immer am Siegel mit dem goldenen Reiter. Der funkelnde Herr hoch zu Ross ist kein Geringerer als Kurfürst August der Starke. Man darf davon ausgehen, dass ihm die Rolle des Qualitätsbotschafters gefallen hätte.

Denkmal August der Starke, Goldene Reiter, Neustadt Dresden, umgeben von Fahrradfahrern und Fußgängern / © Foto: Georg Berg
Denkmal Kurfürst August der Starke, genannt der Goldene Reiter, in der Neustadt Dresden / © Foto: Georg Berg

Lustlager mit Protzstollen

Im Frühjahr 1730 lud August der Starke Adlige und Militärs aus ganz Europa zu einer Heerschau ein. Es sollte das größte und prächtigste Barockfest aller Zeiten werden. Für das Zeithainer Lustlager ließ der Kurfürst von einem Bäckermeister und 60 Bäckerknechten in einem eigens für das Fest errichteten Ofen einen riesigen, 1.800 Kilogramm schweren Christstollen backen. Der sieben Meter lange und drei Meter breite Riesenstollen wurde in 24.000 Portionen an Festgäste und Soldaten verteilt. 264 Jahre nach dem opulenten Lustlager wurde 1994 wieder ein 1.800 Kilogramm schwerer Christstollen gebacken. Seitdem gilt das Dresdner Stollenfest als Höhepunkt der Vorweihnachtszeit in der Dresdner Altstadt.

Zutaten für den Dresdner Christstollen sind Butter, Zucker, Mandeln, Mehl, Gewürze, Milch, Hefe, Orangeat und Zitronat, Rum und Puderzucker / © Foto: Georg Berg
Zutaten für den Dresdner Christstollen sind Butter, Zucker, Mandeln, Mehl, Gewürze, Milch, Hefe, Orangeat und Zitronat, Rum und Puderzucker / © Foto: Georg Berg

Zutaten aus aller Welt

Ein guter Stollen darf vieles sein, aber nicht zu trocken. Nach der Satzung des Verbandes zum Schutz des Dresdner Christstollens gehören Rosinen, Butter, süße und bittere Mandeln, Orangeat, Zitronat, Mehl, Milch und Hefe in den Teig. Kristallzucker, Butterschmalz, Zitronenschalenpaste, Speisesalz, Puderzucker und Stollengewürz gehören ebenfalls zur gesetzlich vorgeschriebenen Rezeptur. Der Zusatz von Margarine und künstlichen Aromen ist nicht erlaubt. Die Zutaten reichen von Sultaninen aus Australien über Mandeln aus Portugal bis hin zu Orangeat aus Italien. Die Stollenqualität, wie wir sie heute kennen, hat sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt.

Fingerprobe. Der Stollenbäcker prüft, ob der Finger beim Berühren des Hefeteigs zurückfedert. Erst wenn bei der Fingerprobe ein Loch im Teig bleibt, ist die Hefe bereit für die Weiterverarbeitung / © Foto: Georg Berg
Der Stollenbäcker prüft, ob der Finger beim Berühren des Hefeteigs zurückfedert. Erst wenn bei der Fingerprobe ein Loch im Teig bleibt, ist die Hefe bereit für die Weiterverarbeitung / © Foto: Georg Berg

Noch im 19. Jahrhundert war es üblich, dass die Familien wochenlang die oft teuren und seltenen Zutaten sammelten. Mit den kostbaren Ingredienzen für mehrere Stollen zogen die Frauen dann mit einem Leiterwagen zum Hausbäcker. Dieser vollendete das Werk und kennzeichnete die Stollen mit dem Stollenzeichen der jeweiligen Familie. Per Leiterwagen wurde das Backwerk wieder abgeholt, in der kühlen Schlafstube gelagert und, so will es der Brauch, erst am Heiligen Abend angeschnitten.

Bäckermeister Tino Gierig gibt die in braunem Rum eingelegten Sultaninen zum Stollenteig. 60 Prozent der Masse machen hier die Sultaninen aus / © Foto: Georg Berg
Bäckermeister Tino Gierig gibt die in braunem Rum eingelegten Sultaninen zum Stollenteig / © Foto: Georg Berg

Hochsaison für Stollen-Unikate

Bei einem Besuch im Dresdner Backhaus zeigt Bäckermeister Tino Gierig, worauf es beim Backen eines Christstollens ankommt. Das fängt schon beim Mehl an. Die Dresdner Stollenbäcker schwören auf das Stollenmehl der Dresdner Mühle. Es ähnelt der Type 405, wird aber länger gelagert und nimmt dadurch mehr Feuchtigkeit auf. Für den fetten Teig mit viel Butter verwendet Tino Gierig stets Edelhefe. Die Hefe wird in einer Mehlmulde aufgeschlämmt und es wird kalte Milch zugegeben. In einer separaten Schüssel werden Butter, Zucker, kandierte Früchte und eine Gewürzmischung, die mit Sicherheit Macis enthält, gegeben. Die weiteren Gewürze und ihre Zusammensetzung sind das Geheimnis einer jeden Stollenbäckerei. Die Stollensaison beginnt im Oktober und dauert bis kurz vor Weihnachten.

Die Hochsaison für Stollen in den Dresdner Backstuben beginnt ab Oktober. Bis kurz vor Weihnachten werden in den rund 100 Dresdner Stollenbäckereien 5 Millionen Stollen gebacken und in alle Welt verschickt / © Foto: Georg Berg
Bis kurz vor Weihnachten werden in den rund 100 Dresdner Stollenbäckereien 5 Millionen Stollen gebacken und in alle Welt verschickt / © Foto: Georg Berg

Stollenmassage statt Rosinenpickerei

Auch die Qualität und Menge der Sultaninen ist von großer Bedeutung, erklärt Tino Gierig. Der Dresdner Christstollen ist immer ein Rosinenstollen. Viele Dresdner Stollenbäcker verwenden die hochwertigere Sorte Sultana, hell und kernlos. Diese werden ein bis zwei Tage in braunem Rum eingelegt und dienen dann als Feuchtigkeitsspeicher im Stollen. Der Stollengrundteig wird mit den Rum-Sultaninen sorgfältig vermengt, zu einer Rolle geformt und längs einen Zentimeter tief eingeschnitten. Bevor der Stollen in den vorgeheizten Ofen kommt, wird er kalt gestellt und bei ca. 180 Grad ca. 60 Minuten gebacken.

Nach dem Auskühlen beginnt die Stollenmassage. Die Sultaninen an der Oberfläche des Stollens sind verbrannt und würden den Geschmack beeinträchtigen, daher werden sie vorsichtig entfernt / © Foto: Georg Berg
Nach dem Auskühlen beginnt die Stollenmassage. Die Sultaninen an der Oberfläche des Stollens sind verbrannt und würden den Geschmack beeinträchtigen / © Foto: Georg Berg

Nach dem Backen gibt es für den Weihnachtsklassiker eine ganz besondere Wellness-Behandlung. Tino Gierig spricht mit einem Augenzwinkern von der Stollenmassage. Fast zärtlich streicht er mit beiden Händen über die Oberfläche und entfernt die überstehenden Sultaninen. Sie sind im Ofen verbrannt, würden dem Geschmack des Stollens eine unerwünschte Note geben und später durch die blütenweiße Puderzuckerdecke des Stollens durchscheinen.

Dresdner Christstollen erhält eine natürliche Konservierung durch das Auftragen von flüssiger Butter mit einer Bürste / © Foto: Georg Berg
Dresdner Christstollen erhält eine natürliche Konservierung durch das Auftragen von flüssiger Butter mit einer Bürste / © Foto: Georg Berg

Ayurveda für den Weihnachtsklassiker

Nach der Massage folgt das, was Tino Gierig die Ayurveda-Kur nennt. Der Stollen wird auf der Oberseite mit flüssiger Butter bestrichen. Auf die Frage, wie viel Butter es sein soll, gibt der Bäckermeister folgenden Tipp. Wenn man meint, es sei genug, sollte man noch dreimal nachlegen. Nach der Butter folgt der Konservierungsschutz mit Kristallzucker. Auch hier gilt, dass nur die Oberfläche bestreut wird. Der Stollen braucht für eine gute Lagerfähigkeit einen sauberen Boden. Zum Schluss folgt eine dicke Schicht Puderzucker, die den ganzen Stollen gleichmäßig bedeckt. Der schneeweiße Stollen ist auch ein christliches Symbol. Er stellt das in ein weißes Tuch gehüllte Jesuskind dar.

Bäckermeister Tino Gierig schneidet einen Original Dresdner Christstollen an. Stollen werden immer in der Mitte angeschnitten, so kann man die beiden Hälften zum Lagern wieder zusammenschieben und die Schnittstellen trocknen nicht aus / © Foto: Georg Berg
Bäckermeister Tino Gierig schneidet einen Original Dresdner Christstollen an. Stollen werden immer in der Mitte angeschnitten / © Foto: Georg Berg

Stollen-Knigge

Egal, ob man einen Original Dresdner Christstollen in der Vorweihnachtszeit bestellt oder sich selber an dem Weihnachtsklassiker versucht, es gibt einige wichtige Regeln für die formvollendete Degustation

  • Stollen immer in der Mitte anschneiden, so können die beiden Stücke aneinander geschoben werden und die Schnittstellen trocknen nicht aus
  • Die empfohlene Scheibendicke ist zwei Zentimeter
  • Stollenstück auf den Teller stellen. Der Gast entscheidet selber, ob er das Stück umkippt und sich so elegant eines Teils der Zuckers entledigt
  • Stollen ist das älteste sächsische Finderfood. Er wird nicht mit der Gabel gegessen
  • Eine Lagerzeit von drei Wochen gilt als Orientierung. In diesem Zeitraum ist jeder Tag mehr eine Wohltat für den Stollen
  • Das führt zur letzten Regel, die so gut wie immer gebrochen wird: den ersten Stollen gibt es an Heiligabend. Schafft so gut wie niemand und führt zum letzten Tipp
  • Original Dresdner Christstollen rechtzeitig bestellen und in der Adventszeit genießen
Der Dresdner Christstollen gilt als ältestes sächsisches Fingerfood. Man isst ihn nicht mit der Gabel / © Foto: Georg Berg
Der Dresdner Christstollen gilt als ältestes sächsisches Fingerfood. Man isst ihn nicht mit der Gabel / © Foto: Georg Berg

Stollenfest und Strietzelmarkt

Jedes Jahr am Samstag vor dem 2. Advent findet das Dresdner Stollenfest statt. Dann zieht ein großer Festumzug mit Stollenbäckerinnen und -bäckern durch die sächsische Landeshauptstadt. Seit 1994 widmen die Mitglieder des Schutzverbandes Dresdner Stollen dem Dresdner Christstollen das Stollenfest. Gemeinsam mit Gästen aus aller Welt feiern sie die jahrhundertealte Backtradition, das lebendige Handwerk und den ganz besonderen Weihnachtsgenuss. Darüber hinaus bieten viele Dresdner Stollenbäckereien in dieser Zeit auch Backworkshops an. Auch auf dem Strietzelmarkt, dem ältesten Weihnachtsmarkt Deutschlands, gibt es eine Schauwerkstatt. In einem Holzbackofen direkt am Eingang des Weihnachtsmarktes können Besucher einen Blick auf die alte Handwerkstradition werfen. Ausführliche Informationen bietet die Schutzverband Dresdner Stollen.

Reise-Tipp: Auf den Spuren von Caspar David Friedrich

Den Dresdner Stollen kann man sich nach Hause schicken lassen. Die Sächsische Schweiz nur vor Ort erleben. 2024 mit kulturellen Höhepunkten zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich. Sonderausstellungen im Albertinum und im Kupferstichkabinett widmen sich dem berühmtesten deutschen Maler der Romantik. Auf dem Caspar-David-Friedrich-Weg wandert man auf den selben Wegen wie einst der Maler und begegnet Motiven seiner berühmten Bilder.

Die Recherchereise wurde vor Ort unterstützt von der Tourismus Marketing Gesellschaft Sachsen und Dresden Marketing GmbH

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