Im südlichsten Zipfel der Schweiz im Kanton Tessin liegt das Valle di Muggio, ein verträumtes Tal am Fuße des Monte Generoso. In den kleinen Dörfern werden Traditionen gepflegt. Der Zincarlin, ein kegelförmiger Rohmilchkäse ist eine kulinarische Besonderheit, die es nur im Valle di Muggio gibt.
Kastanien, Käse und Cantine
Die gefällige Hügellandschaft im Valle di Muggio wird auch gerne mit der Toskana verglichen. Die Jahrhunderte alte Kulturlandschaft geprägt von Kastanienwald und Wiesen für die Viehzucht brachte dem abgeschiedenen Bergtal schon den Schweizer Titel Landschaft des Jahres ein. Wie eine Perlenkette reihen sich die Dörfer in die bewaldeten Flanken des Tales, schlängelt sich die Strasse nach Norden, bis das enge Tal bei Muggio steil ansteigt und am Ende kleinste Wege bis hoch zum Monte Generoso führen.
Die Via Cantine de Salorino
Die Via Cantine, die Straße der Kantinen im kleinen Ort Salorino ist nicht etwa eine bunte Streetfood-Meile, in der jede Menge Köstlichkeiten der Region angepriesen werden. Cantine hier am Fuße des Monte Generoso bezeichnet einen Kühlschrank ohne Strom, einen Felsenkeller, einen Naturkeller, einen Raum, in dem die Menschen seit je her ihre Vorräte und verderblichen Waren lagern.
Hier in Salorino reihen sich diese Kühlräume zu einem ganzen Straßenzug aneinander. Die allermeisten sind heute unbenutzt. Aber nur eine Straße tiefer im Ort auf der Via Stradone in der Cantine von Marialuce Valtulini wird das besondere Klima und die kühle Luft aus dem Felsen des Monte Generoso als Reiferaum für einen kleinen kegelförmigen Rohmilchkäse genutzt.
Zincarlin – Tessiner Slow Food aus dem Valle di Muggio
Der Frischkäse, den noch im 19. Jahrhundert viele Familien im Tal nach eigener Rezeptur produzierten, wird seit 2004 wieder kommerziell angeboten. Auf dem jährlichen Kastanienfest im Muggiotal schaute 2001 der Präsident von Slow Food Tessin vorbei, kostete vom kleinen kegelförmigen Käse mit dem intensiven Geschmack und befand den Käse und seine Geschichte würdig, Teil der Slow Food Familie zu werden. Bevor es soweit war, gab es allerdings lange Diskussionen darüber, welches die richtige Käsemasse für den echten Zincarlin sein sollte. Um den Diskussionen zwischen Slow Food Tessin und der Gemeinde ein Ende zu bereiten, so erzählt es Marialuce, sollte ihre Mutter die Entscheidung treffen. So brachte man ihr verschiedene Typen Käsebruch und sie, die den Zincarlin seit Generationen aus dem eigenen Familienleben kannte, entschied über die künftige Ausgangsbasis für den Zincarlin mit Slow Food Label.
Zincarlin – 60 Tage Felsenklima
Marialuce Valtulini ist eine von wenigen Frauen, die sich im Tal wieder um die Herstellung und Vermarktung des Zincarlin kümmern. Sie kennt den Käse aus eigener Familientradtion. Sie erinnert sich, dass ihre Großmutter und später ihre Mutter den Käse für die Familie hergestellt haben. Dieser Rohmilchkäse, der nur im Muggio-Tal auf der Schweizer Seite des Monte Generoso hergestellt wird, besteht aus Kuhmilch von den Kühen der umliegenden Alpen. Den Käsebruch lässt sie sich einmal in der Woche von einem Bauern aus der Umgebung liefern und beginnt dann mit der Verfeinerung zum traditionellen Zincarlin.
In Marialuce’s Küche riecht es nach Frischkäse. Sie stellt uns die verschiedenen Reifegrade des Zincarlin vor. Der flache Käse ist der jüngste und reift nur einen Tag in einer Form. Er wird auf den Märkten als Frischkäse verkauft, schmeckt mild und erinnert an Ricotta. Die kegelförmige Frischkäse ist gerade mal 48 Stunden alt und hat wortwörtlich über Nacht sein Aroma potenziert. Jetzt beginnt die eigentlich Aufgabe von Käse-Affineurin Marialuce. Dem Frischkäse fügt sie zur besseren Konservierung Salz und Pfeffer zu. Die handgeformten Käsekegel kommen nun zur Reifung in den Naturkeller. Die kühle Luft des Monte Generoso und der regelmäßige Abrieb mit Weisswein und Salz sorgen für eine kontrollierte Fermentation und Geschmackswandlung. Fast jeden zweiten Tag werden die Käsekegel gepflegt und nach zwei Monaten sind sie fertig zum Verkauf.
Tradition und Innvoation. Vom Zincarlin zum Gincarlin
Das Kastanienfest im Valle di Muggio scheint ein kleiner kulinarischer Think Tank zu sein. Rund 15 Jahre nach der Wiederbelebung des Zincarlin stellen 2016 vier junge Männer aus dem Tal ihren selbstgebrannten Gin vor. Natürlich kommen die Zutaten aus dem Tal. Marialuce lässt sich verführen und kostet den Gin. Sie verrät uns nicht, wieviel Gin getrunken wurde, bis die Idee aufkam, den Zincarlin testweise mit der neuen Spirituose des Tals zu waschen. Das Ergebnis ist erstaunlich. Der Gincarlin ist wesentlich weicher und schmeckt nicht so streng wie der Zincarlin. Der Gin beeinflusst die Fermentation und hält die Mikroorganismen anders in Schach. Der Gincarlin hat sich als Nebenprodukt etabliert.
Doch egal, ob man nun Zincarlin oder Gincarlin kostet. Vor dem Essen sollte der Käse zehn Minuten bei Zimmertemperatur stehen. Er schmeckt besonders gut in Kombination mit Kastanienhonig – natürlich ebenfalls aus dem Muggiotal.
Eingangstüren einiger traditioneller Cantinen in Salorino. Heute werden nur noch wenige von ihnen als Kühlraum benutzt / © Foto: Georg Berg
Im Tessin isst man im Grotto nicht in der Cantine!
Zu anfänglicher Verwirrung führen die Begriffe Grotto und Cantine. Das Grotto ist ein Restaurant mit regionaler Speisekarte und angenehmer Raumtemperatur. Die Cantine ist dagegen kalt wie eine Grotte. Hier gibt es nichts zu essen. Hier wird das Essen nur gekühlt und gelagert. In den Grottos im Valle di Muggio gibt es auch Gerichte, die den Zincarlin verwenden. So wird beispielsweise im Grotto dei Tigli in Balerna ein wunderbares Risotto mit Blaubeeren und Zincarlin serviert.
Mehr Geschichten aus dem Muggio-Tal: Hier geht es zur Reportage über das märchenhafte Tal im südlichsten Zipfel der Schweiz.
Die Recherchereise wurde zum Teil von Schweiz Tourismus unterstützt