Barfuß über ein Stoppelfeld, als Preis ein Schaf und ein ungewöhnlicher Kopfschmuck als Krone – so lässt sich der Schäferlauf in Wildberg im Nordschwarzwald auf den ersten Blick beschreiben. Doch diese 300-jährige Tradition ist weit mehr als das. Alle zwei Jahre, am dritten Juliwochenende, feiert Wildberg ein fröhliches Fest, das den Schäferberuf in all seinen Facetten würdigt: vom Leistungshüten über das Schafscheren bis hin zum Festspiel und Hahnentanz. Ob man mit dieser Tradition aufgewachsen ist oder sie zum ersten Mal erlebt – hier findet jeder seinen Spaß. Und wer Fragen hat, bekommt Antworten: Das fachkundige Publikum erklärt gern die fremden Rituale, und auch die Teilnehmer des Festzugs sind gesprächig. Ob eine Dame aus dem Hochadel von 1860, ein Bauer aus einer Fußgruppe oder der düster geschminkte Puppenspieler des Teufels – sie alle erzählen von den alten Bräuchen und dem Leben vergangener Zeiten.

Arbeitstreffen seit 1723
Punkt sechs Uhr morgens zieht die Stadtkapelle Wildberg durch den kleinen Ort im Nordschwarzwald und weckt die Bewohner mit ihren Klängen. Zwei Stunden später füllt sich der Platz am Marktbrunnen vor dem Rathaus. Der Bürgermeister überreicht die Schäferfahne und die Zunftlade an die Vertreter der Schäferzunft – ein feierlicher Moment, der die Bedeutung der Schäferei und ihrer Geschichte unterstreicht. Die Zunftlade, eine hölzerne Truhe, bewahrte einst die wichtigsten Dokumente, Siegel und Gelder der Zunft. Die Grundlage dieser Tradition bildet die Zunftordnung der Schäferzunft von 1651, erlassen von Herzog Eberhard III. von Württemberg.

Ursprünglich war Markgröningen der Hauptsitz der württembergischen Schäferzunft. Seit 1495 mussten alle Schäfer jährlich zum Zunfttag dorthin reisen. Sie nahmen an Versammlungen teil und stimmten über wichtige Angelegenheiten ab. Für viele Schäfer, besonders aus entlegenen Gegenden wie dem Schwarzwald, bedeutete die Reise jedoch hohen Aufwand, Kosten und Risiken für ihre Herden. Um diese Belastung zu mindern, richtete man 1723 auf Drängen der Schwarzwälder Schäfer und mit Zustimmung des Herzogs von Württemberg eine Nebenlade in Wildberg ein. Gleichzeitig entstanden weitere Nebenladen in Bad Urach und Heidenheim. Diese regionalen Einrichtungen ermöglichten es den Schäfern, ihre Zunftgeschäfte vor Ort zu erledigen.

Vom Wirtschaftsfaktor zum Kulturgut
Ein Schäfer mit seiner Herde bleibt bis heute ein positiv besetztes Bild. Doch früher war die Schäferei weit mehr: Sie prägte Wirtschaft und Gesellschaft. Schäfer spielten eine zentrale Rolle in der ländlichen Wirtschaft, ihre Herden lieferten Wolle, Fleisch und Milch. Schäferzünfte vertraten die Interessen ihrer Mitglieder, setzten Regeln für das Handwerk und übernahmen soziale Aufgaben.
Der Schäferlauf war nicht nur ein gesellschaftliches Ereignis, sondern vor allem ein wichtiger Treffpunkt. Hier tauschten sich Schäfer aus, handelten, sprachen Recht und maßen sich im Wettstreit. Solche Zusammenkünfte stärkten die Gemeinschaft und bewahrten die Traditionen des Handwerks. Die Wettläufe, besonders der um die Schäferkrone, standen für den Stolz und die Leistungsfähigkeit der Schäfer.
2018 erkannte die UNESCO diese einzigartige Tradition als Immaterielles Kulturerbe an – in den Städten Markgröningen, Bad Urach und Wildberg in Baden-Württemberg.

Zeitreise mit Schaf und Schippe
Seit Stunden strömen immer mehr Fußgruppen in die Oberstadt von Wildberg. Am Rathausbrunnen tanzen Menschen traditionelle Tänze, die Wildberger Polka hallt durch die Gassen, und Kinder in Trachten oder als arme Bauern verkleidet rennen lachend umher. Gegen Mittag, nachdem die Schäfer ihre Insignien der Macht erhalten haben, setzt sich ein langer Festzug in Bewegung. Die Reihenfolge ist dabei historisch verbrieft: Dem Herold mit Stadtfahne folgen die historischen Figuren Herzog Eberhard von Württemberg und Graf Burkhard III von Hohenberg mit Tochter Gertrud von Hohenberg gefolgt von einem ersten Fanfarenzug.

Dahinter ordnen sich weitere Gruppen für den historischen Umzug, der sich in den nächsten zwei Stunden von der Oberstadt zum Schäferlaufplatz schlängelt. Besonders beeindruckt die Vielfalt der Teilnehmer, die die reiche Kultur und das Brauchtum der Region lebendig machen. Schäfer und Schäferinnen, historische Bürgerwehren, Flößer, Kuckucksuhrenträger und viele andere stellen Szenen aus vergangenen Zeiten dar.

Eine Schäfergruppe trägt die traditionellen Schäferschaufeln, die sogenannten Schäferschippen. Diese kleine Schaufel am unteren Ende des Schäferstabs dient im Alltag als Werkzeug: Sie lenkt die Herde, gibt dem Hütehund Zeichen oder sticht giftige Pflanzen aus. Ein Beifanghaken an der Schaufel hilft, Schafe an den Beinen zu fangen.

Die Kuckucksuhrenträger erinnern an eine Tradition aus dem Schwarzwald. Damals trugen Händler die berühmten Schwarzwälder Uhren – darunter die Kuckucksuhr – auf dem Rücken über weite Strecken zu Märkten und Kunden. Dafür nutzten sie eine spezielle Rückentrage, die Krätze, um die empfindlichen Uhren sicher zu transportieren.


Höhepunkt Schäferlauf
Am frühen Nachmittag verlagert sich das Geschehen von der Oberstadt zum Schäferlaufplatz. Die Tribünen füllen sich, doch bevor die neue Schäferkönigin und der neue Schäferkönig im Wettlauf ermittelt werden, stehen traditionelle Programmpunkte wie das Wassertragen und der Hahnentanz auf dem Plan.

Der Hahnentanz gehört fest zum Rahmenprogramm. Dieses symbolische Spiel erinnert an das frühere Hahnenköpfen, bei dem ein lebender Hahn im Mittelpunkt stand. Mit dem Aufkommen des Tierschutzes ersetzte man das Hahnenköpfen durch das Umstoßen eines Wasserglases. Wer das Glas durch das Anheben des Partners erfolgreich vom Brett stößt, gewinnt den Hahnentanz.
Beim Wassertragen treten junge Frauen der neunten und zehnten Klasse des Bildungszentrums Wildberg gegeneinander an. Mit Wasserkübeln auf dem Kopf laufen sie um die Wette. Dieser Wettbewerb, ebenfalls ein fester Bestandteil des Schäferlaufs, erinnert an die früheren Aufgaben der Schäfermädchen und Schäferfrauen. Sie mussten Wasser für Mensch und Tier herbeischaffen – eine harte Arbeit, die Geschick und Kraft verlangte.
Barfuß für die Krone
Wer wird den Schäppel, die leuchtend rote Schäferkrone aus Perlen und Glas, für die nächsten zwei Jahre tragen und die Zunft der Schäferinnen und Schäfer repräsentieren? Diese Frage klärt sich beim Schäferlauf, bei dem nur Mitglieder von Schäferfamilien antreten dürfen – Männer wie Frauen. Die Teilnahmebedingungen sind streng und seit Jahrhunderten unverändert: Mindestalter 14 Jahre, hauptberuflicher Schäfer oder Schäferin, oder Kind eines Schafhalters mit Wohnsitz in Baden-Württemberg und mindestens 200 gemeldeten Schafen. Unter den Läuferinnen finden sich inzwischen Frauen, die den Schäferberuf gelernt haben oder in der Landwirtschaft arbeiten. Umso bemerkenswerter, dass es den Lauf der Schäferinnen schon seit 1723 gibt, als die Nebenlade in Wildberg begann. Mehr über Frauen beim Schäferlauf.
Fixpunkt im Jahreskalender der Schäfer
Die Auflösung der Schäferzunft im Königreich Württemberg im Jahr 1828 änderte nichts an den Festen. Das Treffen der Berufsschäfer öffnete sich zunehmend der Bevölkerung und entwickelte sich immer mehr zum Volksfest. Heute ziehen über 60 Gruppen beim Festzug in Wildberg durch die Straßen. Am Lauf um die Schäferkrone dürfen weiterhin nur Mitglieder aus Schäferfamilien teilnehmen. In Wildberg starten traditionell die Kinder dieser Familien die Wettläufe.
Wer lebendige Tradition hautnah erleben will, sollte sich diesen Termin merken: Der Schäferlauf in Wildberg wechselt sich mit Bad Urach ab und findet immer in geraden Jahren statt – das nächste Mal vom 17. bis 20. Juli 2026. Ein Besuch lohnt sich!
Von der Schäfertochter zur Berufsschäferin: In der Männerdomäne tut sich was, wie die Schäferlauf-Tage in Wildberg zeigen.
Die Recherchereise wurde von Schwarzwald Tourismus unterstützt