Die Geschichte der komfortablen Bahnreise beginnt in der Prärie von Chicago. Hier entstand 1880 nach dem Willen von George Pullman die perfekte Stadt für die Arbeiter seines Eisenbahn-Imperiums. Pullman baute luxuriöse Schlaf- und Salonwagen, die er zusammen mit dem Personal, den sogenannten Pullman-Portern, an die US-amerikanischen Eisenbahngesellschaften vermittelte. Der Name Pullman wurde zum Synonym für luxuriöses Reisen und seine Arbeiter wohnten in modernen Häusern. Doch seine Doppelrolle als Arbeitgeber und Vermieter scheiterte. Pullman City ist heute einer von Chicagos 77 Stadtteilen. Ganze Straßenzüge und die Überreste der Fabrik gehören heute zum Pullman National Historical Park. Es gibt ein Museum, öffentliche Führungen und die Möglichkeit, auf eigene Faust durch die einstige Arbeiterstadt zu spazieren.
Das System Pullman
Es klingt zu schön um wahr zu sein. George Pullmann ließ für seine Planstadt Büros, Fertigungshallen, Wohnhäuser, eine Markthalle, ein Hotel, eine Bank, eine Kirche und sogar eine Bibliothek und ein Theater bauen. Alles eingebettet in eine parkähnliche Umgebung. Die Wohnhäuser waren für die 1880er Jahre super modern, mit Heizung, fließendem Wasser und Gas. Die aufstrebende Stadt am Rande Chicagos war weitläufig und grün, der Lebensstandard hoch. Bibliothek und Schule ermöglichten den Menschen Bildung. Alle Waren des täglichen Bedarfs kauften die Arbeiter im Arcade Building, einem mehrgeschossigen Gebäude, das mit verschiedensten Geschäften unter einem Dach als Vorläufer moderner Einkaufscenter galt. Die hübsche Greenstone-Church aus grünem Stein, eigens aus Pennsylvania beschafft, sollte ein Gotteshaus für alle Konfessionen werden. Pullmans Plan klang wirklich gut, die Umsetzung erfolgte in Windeseile, doch sein Antrieb war nicht Menschenliebe, sondern Gewinnmaximierung.
Ein Trauerzug wird zum Zugpferd
George Pullman hatte als Goldmakler in Colorado ein Vermögen gemacht. 1858 entwickelte er den ersten komfortablen Schlafwagen. Seine Wagen kosteten fünfmal mehr als herkömmliche. Als 1865 Präsident Abraham Lincoln von einem fanatischen Südstaaten-Anhänger erschossen wurde, arrangierte Pullman den Transport des Leichnams in einem seiner Wagen. Der Zug fuhr von Washington nach Springfield und folgte der Route, die Lincoln fünf Jahre zuvor bei seinem Amtsantritt genommen hatte. Die gewaltige Anteilnahme der Bevölkerung steigerte die Bekanntheit der Pullman-Wagen erheblich.
Pullmans schöne neue Welt
Ende des 19. Jahrhunderts lebten und arbeiteten 20.000 Menschen in Pullman-City. Der Status und die Klasse eines Arbeiters bestimmte, welches Pullman-Haus er mieten konnte. Gutverdiener wohnten nahe ihrem Arbeitsplatz, einfache Arbeiter mussten längere Wege in Kauf nehmen. Pullman glaubte, dass die sauberen Wohnungen und die gepflegte Umgebung seine Angestellten motivieren würden, eine höhere soziale Klasse und besseres Verhalten anzustreben. Alkoholsucht, Gewalt, Fluchen oder gar Streikgedanken sollten bei seinen Arbeitern gar nicht erst aufkommen. Doch Pullmans Konzept hatte einen entscheidenden Fehler: Er schuf eine Welt, in der die Bewohner kein Mitspracherecht hatten.
Strictly business!
Seinen Aktionären versprach George Pullman sechs Prozent Gewinn. Um das zu erreichen, mussten nicht nur die Fabrik, sondern alle Einrichtungen in seiner Stadt profitabel sein. Man kann nicht einmal sagen, Pullman habe seinen Leuten das Geld aus der Tasche gezogen, denn die Miete zog er direkt vom Gehalt ab. Alle Bankgeschäfte liefen über die Pullman-Bank und die Menschen mussten sowohl für die Bücherausleihe als auch für die Nutzung der Kirche zahlen. Es dauerte keine zehn Jahre, bis sich hörbarer Unmut regte. Anfang der 1890er Jahre kritisierte ein Journalist der Harpers Weekly die restriktive Verwaltung und die mangelnden Beteiligungsmöglichkeiten der Einwohner an den städtischen Angelegenheiten. Sein Vorwurf: „Pullmans Idee sei unamerikanisch. Es handele sich um einen wohlwollenden Feudalismus, der das Glück der Menschen anstrebt, aber auf eine Weise, die den Behörden gefällt.“
Streik und Boykott
Die Depression von 1893 führte zu einem landesweiten Rückgang der Bestellungen von Eisenbahnwagen. Die Pullman-Gesellschaft kürzte zwar die Löhne der Arbeiter um 25 Prozent, senkte aber weder die Mieten noch die Preise in den Geschäften der Pullman-Arkaden. George Pullman weigerte sich, mit den Arbeitnehmern über diese Themen zu verhandeln. Im Mai 1894 legten die Arbeiter ihre Arbeit nieder. Eisenbahner im ganzen Land solidarisierten sich mit ihnen. Sie boykottierten jeden Zug, der einen Pullman-Wagen zog, und legten so den Handel lahm. Damit war der Streik da, den Pullman in seiner modernen Arbeiterstadt unbedingt verhindern wollte. Schlimmer noch, Menschen starben und über 2.000 Pullman-Wagen wurden zerstört. Pullman musste die Regulierung seiner Doppelrolle als Arbeitgeber und Vermieter hinnehmen. Eine Intervention, die man sich heute angesichts der Macht der Tech-Konzerne oder der bizarren Postenverteilung für die zweite Amtszeit von Donald Trump nur wünschen könnte.
Als Unternehmer verhasst, als Marke bewundert
Die Ereignisse in Pullman und die Urteile der Staats- und Bundesgerichte setzten landesweit Maßstäbe. Pullman musste seine Wohnimmobilien in Pullman-City verkaufen. 1897 starb George Pullman an einem Herzinfarkt, gehasst von vielen. Aus Angst vor Grabschändung ließ die Familie seinen Sarg einbetonieren. 1909 konnten die meisten Pullman-Häuser endlich in Privatbesitz übergehen und die Käufer mussten nicht mehr bei Pullman arbeiten. Einige erwarben Häuser von ehemaligen Angestellten, die ihre Jobs verloren hatten, als das Unternehmen von Holz- auf Stahlwagen umstellte. Die Stadt Chicago übernahm Pullman-City. Mit dem Aufkommen des Autoverkehrs in den 1940er Jahren schrumpfte die Belegschaft von Pullman weiter.
Take it easy – Go Pullman!
In Pullman City rollte 1981 der letzte Eisenbahnwagen aus der Werkshalle. Längst hatte das Automobil die Eisenbahn als Fortbewegungsmittel Nummer eins verdrängt. George Pullman starb als ungeliebter, ja sogar gehasster Mann. Seine Vision einer Arbeiterstadt scheiterte, doch die Geschäftsidee aus dem Jahr 1858 überdauerte alle Höhen und Tiefen seines Unternehmertums. Luxuriöse Eisenbahnwaggons wurden bald auch in Europa produziert und trugen den Namen Pullman wie einen Adelstitel. Einige wenige historische Luxuswaggons sind bis heute im Einsatz. Take it easy – Go Pullman, das geht zum Beispiel auf einer der schönsten Bahnstrecken der Welt. Mehrmals im Jahr verwandelt sich der Glacier Express am Bahnhof Davos in den Alpine Classic Pullman und fährt über den Oberalppass nach Andermatt.
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Die Recherche wurde von Choose Chicago unterstützt