Das grüne Muggiotal im Tessin

Das Valle di Muggio ist das südlichste Tal im Tessin. Es zieht sich von der Region Chiasso hoch bis zum Fuß des Monte Generoso. Über die Jahrhunderte haben die Menschen hier ein buntes Mosaik an Lebensräumen geschaffen. Kastanienwald wechselt sich ab mit Trockenwiesen, Weiden und Streuobst.

Jahrhunderte alte Kulturlandschaft: Das Valle di Muggio hat viele Namen: "Toskana der Schweiz", "Landschaft des Jahres 2014", "südlichstes Tal im Tessin" / © Foto: Georg Berg
Jahrhunderte alte Kulturlandschaft: Das Valle di Muggio hat viele Namen: „Toskana der Schweiz“, „Landschaft des Jahres 2014“, „südlichstes Tal im Tessin“ / © Foto: Georg Berg

Eine Schweizer Kulturlandschaft wie im Märchen

Nach kurzen Regenschauern legen sich kleine Wolkentupfer über das Grün. Weinberge und Äcker werden unterbrochen von Hecken und Trockenmauern. Die Region ist reich an Pflanzen und über 100 Schmetterlingsarten fühlen sich im Valle di Muggio wohl. Zahlreiche thematische Wanderwege, auf denen sich die alte Kulturlandschaft entdecken lässt, durchziehen das Tal.

Unter einem riesigen Ahornbaum lassen es sich die Schafe gut gehen / © Foto: Georg Berg
Unter einem riesigen Ahornbaum lassen es sich die Schafe gut gehen / © Foto: Georg Berg

Das Spektrum der Biodiversität ist hier breit gefächert. Vom Feuersalamander, der durch das Laub raschelt bis zu seltenen Vogelarten wie dem Wendehals lassen sich hier viele Tierarten beobachten. Bei einer Wanderung durch diese Kulturlandschaft mit ihren zahlreichen Spuren bäuerlichen Lebens werden aber auch die aktuellen Spuren der Landflucht sichtbar. Verlassene Gehöfte und leerstehende Häuser. Es ist wie so oft im ländlichen Raum, die jungen Leute zieht es in die Städte, die Alten bleiben zurück.

Im Dorf Scudellate leben noch 20 Menschen. Das würde auf Dauer nicht reichen, um den Ort im Valle di Muggio zu erhalten / © Foto: Georg Berg
Im Dorf Scudellate leben noch 20 Menschen. Das würde auf Dauer nicht reichen, um den Ort im Valle di Muggio zu erhalten / © Foto: Georg Berg

Scudellate – ein Dorf wird zum Hotel

Das Dorf Scudellate ist das Oberste im Muggiotal. Scudellate hat noch 20 Einwohner, eine Osteria, mit einem über das Tal hinaus gepriesenen Ossobuco, einen Vogelturm und ein Postauto, das mehrmals täglich vorbeischaut. Drumherum viel Natur, fantastische Ausblicke ins Tal und leerstehende Häuser. Die Osteria Manciana hat, und das ist viel wert, ganzjährig geöffnet. Guerino Pifaretti ist Inhaber und Koch, seine Frau macht den Service. Sein Großvater hat die Osteria gebaut, In der Stube hängt ein altes Foto. Guerino als kleiner Junge auf dem Schoss des Großvaters.

Geurino Pifaretti, Inhaber der Osteria Manciana vor dem Foto, das ihn zusammen mit seinem Großvater zeigt / © Foto: Georg Berg
Geurino Pifaretti, Inhaber der Osteria Manciana vor dem Foto, das ihn zusammen mit seinem Großvater zeigt / © Foto: Georg Berg

Guerinos Kinder sind vor langem schon raus in die Welt. Es ist das typische Schicksal der kleinen Dörfer. Auch das von Scudellate schien besiegelt. Doch dann startet eine Initiative, in der auch Guerinos’s Sohn eine Perspektive sieht. Er ist eine von fünf Personen, denen der Ort am Herzen liegt, und die sich mit Taten und Geld engagieren. In Scudellate soll ein Albergo Diffuso entstehen. Dieser Ausdruck klingt beschwörend und verlockend zugleich. Albergo Diffuso – das ganze Dorf soll zum Hotel werden und die Osteria Manciana seine Lobby.

Das Restaurant von Guerino Pifaretti liegt ganz markant oberhalb der letzten Serpentine, mit der man das Dorf erreicht. Rennradfahrer machen hier oft Halt. Die Osteria hat auch viele Stammgäste, die aus dem Tal heraufkommen / © Foto: Georg Berg
Das Restaurant von Guerino Pifaretti liegt ganz markant oberhalb der letzten Serpentine, mit der man das Dorf erreicht. Rennradfahrer machen hier oft Halt. Die Osteria hat auch viele Stammgäste, die aus dem Tal heraufkommen / © Foto: Georg Berg

Carlo Crivelli, Direktor der Enoteca Borgovecchio in Balerna, hat viel Zeit in Scudellate verbracht. Seine Familie besitzt dort ein Ferienhaus. Für ihn ist die Wiederbelebung des Dorfes ein echtes Herzensprojekt. Er sieht großes Potential. Die Lage des Dorfes ist fantastisch. Rennradfahrer lieben die Strecke, die im unteren Abschnitt auch Teil der Swiss Trophy ist. Oben führen viele Wanderwege durch die Kulturlandschaft bis hin zum Gipfel des Monte Generoso. Das alte Schulhaus, in dem Guerino Piffaretti noch zur Schule ging, war viele Jahre eine Jugendherberge. Auch im neuen Konzept einer Albergo Diffuso soll das ehemalige Schulgebäude ein Ostel bleiben. Eine preisgünstige und einfache Unterkunft für jederman. Weitere Wohnungen sollen über das Dorf verteilt entstehen.

Carlo Crivelli ist Direktor der Enoteca Borgovecchio und ein großer Fan von Scudellate. Daher engagiert er sich neben vier weiteren Personen für ein Albergo Diffuso in Scudellate / © Foto: Georg Berg
Carlo Crivelli ist Direktor der Enoteca Borgovecchio und ein großer Fan von Scudellate. Daher engagiert er sich neben vier weiteren Personen für ein Albergo Diffuso in Scudellate / © Foto: Georg Berg

Albergo Diffuso am Monte Generoso

Der Monte Generoso nimmt mit seinen 1.701 Metern eine imposante Stellung über dem Luganer See ein. Er ist ein letzter Posten der Tessiner Alpen vor der Po-Ebene. Die meisten Touristen machen sich mit der alten Zahnradbahn, aus Capolago kommend, auf den Weg zum Gipfel. Auf 1.600 Meter ist Endstation. Die restlichen Höhenmeter muss man sich erlaufen. Alternativ lässt sich der Gipfel auch von Scudellate aus erreichen. Auf dem Weg zum Gipfel, keine zehn Minuten Gehzeit vom Dorf entfernt, liegt verborgen zwischen Bäumen eine weitere Attraktion der Region. Der Roccolo ist ein Vogelturm, der viel über das Leben im Valle di Muggio erzählt.

Versteckt zwischen den Bäumen, auf eine Höhe von 950 Meter steht der Roccolo Meri, der Vogelturm von Scudellate. Der Turm wurde restauriert und ist zu bestimmten Zeiten auch zu besichtigen / © Foto: Georg Berg
Versteckt zwischen den Bäumen, auf eine Höhe von 950 Meter steht der Roccolo Meri, der Vogelturm von Scudellate. Der Turm wurde restauriert und ist zu bestimmten Zeiten auch zu besichtigen / © Foto: Georg Berg

Die Vogelfänger im Valle di Muggio

Der wohl berühmteste Vogelfänger der Welt heisst Papageno. An der Seite des Prinzen Tamino spielt in Mozart’s Zauberflöte von 1791 der Vogelfänger die Hauptrolle und entspricht vermutlich dem damaligen Zeitgeist. Denn Vogelfänger lieferten in jener Zeit die Singvögel. Sie fingen die Vögel auf ihren Flugrouten vom Norden in den Süden ab und boten sie in den umliegenden Städten zum Kauf an. Singvögel dienten der gehobenen Gesellschaft zum Zeitvertreib. Die Vögel landeten aber auch auf den Speisetellern der feinen Häuser. Der Beruf des Vogelfängers entstand aus Not und Armut. Im Valle di Muggio gab es, insbesondere in den langen und kalten Wintern, nicht viel zu essen. Esskastanien brachten die Menschen über den Winter. Von dem Verkauf der Vögel konnten sie nötige Dinge kaufen.

Kastanienbäume im Valle di Muggio. Noch heute wird jährlich ein Kastanienfest gefeiert. Früher waren Maronen ein Hauptnahrungsmittel der armen Landbevölkerung / © Foto: Georg Berg
Kastanienbäume im Valle di Muggio. Noch heute wird jährlich ein Kastanienfest gefeiert. Früher waren Maronen ein Hauptnahrungsmittel der armen Landbevölkerung / © Foto: Georg Berg

Der Roccolo Meri in Scudellate

In Scudellate verweist ein Wegweiser auf den Roccolo Meri. Er liegt etwas oberhalb des Dorfes und besteht aus drei Stockwerken. Jede Etage des Vogelturms hat eine ausgeklügelte Funktion. Durch den Gesang bereits gefangen gehaltener Vögel, wurden Zugvögel ins Innere gelockt, dann durch den Wurf eines fliegenden Objekts, den die Tiere für einen Greifvogel hielten, aufgeschreckt und bei dem Versuch aus dem Turm herauszufliegen landeten sie in einem Netz. Das perfide System ermöglichte hohe Fangquoten. In der Schweiz wurde der Vogelfang 1875 verboten. Die Geschichte der Vogelfänger ist ein sehr prägnantes Relikt, das die Menschen im Valle di Muggio hinterlassen haben.

Wandert man vom Roccolo Meri weiter Richtung Monte Generoso so kommt man an einigen verfallenen Häusern vorbei. In den alten Gemäuern haben es sich Ziegen gemütlich gemacht / © Foto: Georg Berg
Wandert man vom Roccolo Meri weiter Richtung Monte Generoso so kommt man an einigen verfallenen Häusern vorbei. In den alten Gemäuern haben es sich Ziegen gemütlich gemacht / © Foto: Georg Berg

Scudellate ist übrigens nur einen Steinwurf von Italien entfernt. Ein Wanderweg führt heute über die Grenze in das pittoreske Erbonne. Das italienische Dorf ist mit Scudellate eng verbunden. Doch dies ist wieder eine andere Geschichte und erzählt vom Miteinander der Menschen, in einer Zeit als Grenzverläufe nicht nur auf Landkarten, sondern oft auch in den Köpfen verliefen.

Mehr Geschichten aus dem Muggio-Tal. Hier geht es zur Reportage über den Zincarlin – eine Käse-Spezialität aus dem Valle di Muggio.

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