Die Doppelspitze, wir kennen sie als klassische Formation im Fußball, wenn sich zwei Stürmer die Offensivlast teilen. Das politische Pendant ist das Regierungsmodell San Marinos. Es teilt Verantwortung, nutzt Synergien, erfordert aber ein perfektes Zusammenspiel. In San Marino heißen die Stürmer Capitani Regenti. Ihre Tradition reicht bis ins 13. Jahrhundert. Erstmals traten sie dokumentiert als Consules am 12. Dezember 1243 auf. San Marino ist damit die älteste aktive Republik der Welt. Diese Doppelspitze garantiert politische Stabilität und Machtbalance. 1981 wählte man mit Maria Lea Pedini erstmals eine Frau zur Capitana Reggente. Zweimal jährlich findet die feierliche Vereidigung statt. Ein Besuch im Palazzo Pubblico bei Silvia Berti, Direktorin des diplomatischen Protokolls, und Giovanna Crescentini, Staatssekretärin für Innere Angelegenheiten.

Gelebte Demokratie
Jedes Jahr kurz vor dem 1. April und dem 1. Oktober laufen die Vorbereitungen für die feierliche Vereidigung der neuen Staatsrepräsentanten auf Hochtouren. Silvia Berti, die oberste Protokollchefin, beherrscht den Ablauf bis ins kleinste Detail. Während die Führungsspitze der Republik San Marino alle sechs Monate wechselt, dient Berti dem Staat seit fast 30 Jahren. Sie hat zahlreiche Capitani Reggenti in ihr Amt eingeführt. „Unser Regierungsmodell erfordert viel Zusammenarbeit – die Capitani Reggenti müssen erst lernen, dass sie zu zweit sind“, erklärt Berti. Beide Amtsträger besitzen ein gegenseitiges Vetorecht, das Machtkonzentration verhindert. Der kollektive Führungsansatz mit halbjährlichem Wechsel belebt die Politik und verhindert festgefahrene Machtstrukturen.

Tradition und Diplomatie
Am Tag der Amtseinführung ziehen Paraden durch die Altstadt. Alles spielt sich zwischen dem Palazzo Pubblico auf der Piazza della Libertà und der Basilika des Heiligen Marinus ab. Die Zeremonie ist zugleich Volksfest, Touristen sind willkommen, betont Silvia Berti. Bei der hohen Frequenz der Vereidigungen sind jedoch längst nicht alle San Marinesen auf den Beinen, räumt sie ein. Nur 33.500 Menschen dürfen sich San Marinesi nennen – das entspricht der Einwohnerzahl einer mittelgroßen europäischen Stadt. Doch trotz ihrer geringen Größe unterhält die Republik San Marino ein beeindruckend aktives diplomatisches Netzwerk. Sie pflegt Beziehungen auf mehreren Ebenen: zu den Vereinten Nationen, der OSZE, dem Europarat und dem Internationalen Währungsfonds. Zudem unterhält San Marino 11 Botschaften und diplomatische Kontakte zu über 110 Staaten. Silvia Berti berichtet, dass auch die Pflege dieser Beziehungen zu ihren Aufgaben gehört. Sie selbst war bereits Botschafterin für Finnland, Estland und Litauen.

Rotierende Macht im Palazzo Pubblico
Im Parlament von San Marino ist Sitzungswoche. Die 60 Abgeordneten arbeiten ehrenamtlich und haben meist andere Berufe. San Marinos Parlament tagt unregelmäßig, je nach Bedarf, und bleibt so flexibel – typisch für kleine Staaten mit direkter Governance. Die beiden Capitani Reggenti leiten den Consiglio Grande e Generale (Parlament), haben dort aber kein Stimmrecht. Sie führen die Sitzungen und wachen als oberste Garanten der staatlichen Ordnung über die Einhaltung der verfassungsmäßigen Prinzipien.

Giovanna Crescentini führt uns auf den Balkon des Sitzungssaals. Die Juristin verantwortet innere Verwaltung, öffentliche Sicherheit und institutionelle Koordination. Sie unterstützt die Capitani Reggenti auch in protokollarischen und administrativen Angelegenheiten. Die Capitani Reggenti wählt man aus den Abgeordneten, erklärt Crescentini. Francesca Civerchia, die amtierende Capitano, zeigt die wechselnden Zuständigkeiten der Parlamentarier: Die Sozialwissenschaftlerin ist seit 2019 im Parlament. Als Abgeordnete initiierte sie ein Gesetz zur Unterstützung alleinerziehender Mütter, erläutert Crescentini. Als Regierungsoberhaupt darf sie keine neuen Gesetze initiieren, sondern nur öffentlich bekannt geben.

Lang lebe die Demokratie!
Die Capitani Reggenti in San Marino gehören zu den ältesten durchgehend bestehenden demokratischen Ämtern der Welt. Ihre Ursprünge reichen ins 13. Jahrhundert. Schon früh legte man die Amtszeit auf sechs Monate fest und führte ein gegenseitiges Vetorecht ein, um Tyrannei zu verhindern. Die Statuten von 1600 präzisierten diese Regeln und wirken heute, 425 Jahre später, wie ein Handbuch für eine widerstandsfähige Demokratie: Damals setzte man das Mindestalter auf 25 Jahre, verbot die direkte Wiederwahl durch eine dreijährige Pause und verlangte Rechenschaft nach dem Amtsende.

Zweimal jährlich können Bürger nach der Arengo-Tradition Gesetzesinitiativen einbringen – ein seltenes Modell direkter Demokratie in Europa. Seit 1243 blieb das Regierungsmodell bestehen, selbst während der Vereinigung der zersplitterten italienischen Staaten im 19. Jahrhundert und des Faschismus. 2008 erkannte die UNESCO es als Weltkulturerbe an, da es ein einzigartiges Modell mittelalterlicher Demokratie darstellt.

Was die Welt von San Marino lernen kann
Während viele Demokratien unter Populismus oder Autoritarismus leiden, beweist San Marino, wie historische Institutionen, Bürgerbeteiligung und Gewaltenteilung Stabilität fördern. Auch Kleinststaaten können globale Vorbilder sein. San Marinos Außenpolitik konzentriert sich auf Menschenrechte, Friedenssicherung und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Besonders in Flüchtlingsfragen zeigte der Staat mehrfach Größe. 1943 und 1944 bot San Marino Zivilisten und Verfolgten Schutz: Juden, politischen Gegnern des Mussolini-Regimes und Kriegsvertriebenen.

Trotz faschistischer Herrschaft rettete das Land einige Juden vor der Deportation. In den Kriegsjahren nahm San Marino 100.000 Menschen auf. Das Zehnfache seiner Einwohnerzahl. Die Unterkünfte waren einfallsreich: Eine stillgelegte Bahnstrecke zwischen San Marino und Rimini diente als Massenquartier, Schulen, Klöster und Gemeindehäuser wurden zu Flüchtlingslagern, und Privatpersonen öffneten ihre Türen. Silvia Berti betont, Frieden, Demokratie und Freiheit seien die Grundpfeiler ihres Landes. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine handelte San Marino sofort: Es nahm ukrainische Flüchtlinge auf, integrierte Kinder in Schulen und schickte Stromgeneratoren als Sachspenden.

Warum Napoleon abblitzte
San Marinos Regierende bewiesen mehrfach Geschick im Umgang mit Großmächten. So wiesen sie Napoleon Bonaparte, einem glühenden Verehrer ihrer Republik, eine großzügige Schenkung zurück. Während seines Italienfeldzugs 1797 bot er San Marino eine Ausdehnung bis zur Adria an, dazu Kanonen und Getreide. Seiner Armee befahl er, die Grenzen des Kleinstaates zu respektieren. Die San-Marinesen lehnten das Land ab, um Konflikte mit Nachbarn zu vermeiden, und nahmen nur das Getreide als symbolische Geste an. Sie hielten an ihrer Neutralität fest und stellten Souveränität über Expansion.

Die Heilige Agatha und Spuren im Schnee
Die Republik San Marino verdankte ihren Fortbestand nicht nur diplomatischem Geschick, sondern auch, so sagt man, göttlichem Beistand. Neben dem Gründerheiligen Marinus gilt die Heilige Agatha als Mitpatronin des Stadtstaates. Ihre Verehrung knüpft an eine Legende, die von der Verteidigung San Marinos erzählt: Im 6. Jahrhundert soll Agatha durch plötzlichen Schneefall eine feindliche Armee in die Irre geführt und so einen Angriff verhindert haben. Diese Überlieferung spiegelt wohl reale Bedrohungen wider, als lokale Machthaber und kirchliche Autoritäten die Unabhängigkeit der kleinen Gemeinschaft infrage stellten. Wegen dieser wundersamen Rettung erhob man Agatha im Mittelalter zur zweiten Schutzheiligen San Marinos. Und weil Geschichte oft auf seltsame Weise wiederkehrt, ein Gedanke: Vielleicht braucht Grönland bald göttlichen Beistand. Die Heilige Agatha kennt sich mit Schnee aus. Wer weiß, ob sie nicht erneut ein Wunder vollbringen muss, wenn Demokratien ins Wanken geraten.
Mehr über San Marino
In der Doppelspitze von San Marino geht es um die Capitani Regenti, die zu den ältesten demokratischen Ämtern der Welt gehören. Zu den neueren Attraktionen von San Marino gehören gut ausgebaute Wanderwege. Der Rundweg „Sentiero della Rupe“ führt an den drei Türmen der Republik vorbei und verwandelt sich dann in einen Klippenpfad, der entlang der steilen, felsigen Flanke des Monte Titano verläuft. Egal, ob man nur durch die Altstadtgassen bummelt und immer wieder die Aussicht genießt oder eine ausgedehnte Wanderung zum Beispiel zu Eduardo Kobras abgelegenem Wandgemälde Die Geschichte von San Marino unternimmt: Am Abend belohnen Restaurants wie das Cesare, La Terrazza oder Il Ghetto da Ottavio mit kulinarischen Spezialitäten. Ein Snack für zwischendurch ist mit Piadina schon gesetzt!
Die Recherche wurde von Visit San Marino unterstützt