Bislang ist es eher so, dass sich bei der Vorbereitung auf eine Reise nach Zypern fast unbemerkt eine Grenze im Kopf aufbaut. Griechisch-zypriotische Quellen preisen die Attraktionen im Süden der Insel an, türkisch-zypriotische Reisetipps konzentrieren sich auf die Sehenswürdigkeiten im Norden. Kaum ein Angebot verbindet Ziele im Norden mit Ausflügen in den Süden oder umgekehrt. Die Green Line, die seit 1964 die Insel teilt, scheint auch dem eigenen Urlaub Grenzen zu setzen. Doch das muss nicht sein. Egal, ob man ein Hotel im Süden oder eine Unterkunft im Norden Zyperns gewählt hat, ob man am Flughafen Larnarca im Süden oder am Flughafen Ercan im Norden ankommt, man kann die ganze Insel ohne große Probleme kennen lernen. Am besten beginnt man in Nikosia. Neugier und ein Personalausweis genügen.
Grenze im Kopf
Nikosia ist die Hauptstadt Zyperns und Nikosia ist die einzige noch geteilte Hauptstadt der Welt. Dieser Status quo ist sicherlich jedem Touristen bekannt, der die Mittelmeerinsel besucht. Weniger bekannt ist, wie einfach es für EU-Bürger ist, die Grenze, die mitten durch die Altstadt von Nikosia verläuft, zu überqueren und sich ein eigenes Bild von beiden Seiten der Stadt, ja der ganzen Insel zu machen.


Das geteilte Spiegelei
Nelin Tunç steht vor einem Stadtplan, der Nikosia in all seinen Umrissen zeigt, mit wehrhaften Mauern und zackigen Türmen, die einst die Venezianer errichten ließen, um die Eroberung durch die Osmanen abzuwehren. Sie scheiterten, aber das ist eine andere Episode in der bewegten Geschichte Zyperns. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Stadtplan ist die vollständige Abbildung der Altstadt von Nikosia. Nelin Tunç ist zertifizierte Guide, mehr noch, sie ist Nordzypriotin, in Nikosia aufgewachsen und hat ihre Diplomarbeit in Architektur ihrer Heimatstadt gewidmet. Mehr Kompetenz für eine Stadtführung geht kaum.

Wir stehen in der Bandabulya, der großen Markthalle im Nordteil von Nikosia. Nelin Tunç zeigt auf einen Stadtplan: „Wenn die Altstadt ein Spiegelei ist, dann stehen wir im Eigelb.“ Schon während der osmanischen Herrschaft (1571-1878) befand sich an dieser Stelle ein Bazar. Während der britischen Verwaltung (1878 – 1959) wurde die große Markthalle gebaut. Der damalige Haupteingang ist heute eine Sackgasse und endet direkt an der Green Line. Der kreisförmige Stadtkern mit einem Durchmesser von 1,6 Kilometern und einem Umfang von 5 Kilometern entlang der alten Stadtmauer hat seit 1964 einen Riss. Mitten durch die verwinkelten Gassen Nikosias zog damals ein britischer Generalmajor die Green Line, um den eskalierenden Bürgerkrieg zwischen griechischen und türkischen Zyprioten zu befrieden. Straßen wurden zu Sackgassen, an deren Ende Barrikaden mit Stacheldraht errichtet wurden.


So stößt man bei einem Stadtrundgang durch Nikosia auf beiden Seiten auf diese eine Grenze. Nelin Tunç spart sie bewusst nicht aus. Immer wieder blickt man in Sackgassen, sieht Erker und Balkone im Niemandsland oder eine Kirche, deren Kirchenschiff in der Pufferzone liegt, aber durch das Hauptportal im Süden der Stadt zugänglich ist. Bedeutende Gebäude wie der Büyük Han, die große Karawanserei, das britische Gerichtsgebäude aus der englischen Kolonialzeit oder die St. Sophia Kathedrale und heutige Selimiye Moschee liegen im Norden der Stadt. Die Atmosphäre in der nördlichen Altstadt ist wuselig orientalisch und gelassen zugleich. Die Gassen sind voller Leben, Textilhändler bieten afrikanische Stoffe, Modefummel, gefälschte Luxuslabels, Handtücher, Korbwaren oder frisches Gemüse an. Dazwischen immer wieder Coffeeshops, Restaurants und Händler, die Kostproben von Baklava und Turkish Delight anbieten.


Crossing Point Ledra Street Lokmaci Gate
Seit 2008 ist es auch für Touristen möglich, die Grenze zwischen Nord- und Südzypern zu überqueren. Nirgendwo ist das einfacher als in der Altstadt von Nikosia. Zu Fuß und mit dem Ausweis, den man bei der Einreise vorgezeigt hat, ist man in wenigen Minuten im anderen Stadtteil. Der Checkpoint heißt im Süden Ledra Street und im Norden Lokmaci Gate. Nelin Tunç führt regelmäßig Teilnehmer aus dem Süden durch die Altstadt. Meist sind es Touristen, die auf ihrer Reise den sehenswerten Norden Nikosias nicht auslassen wollen. Manchmal sind es aber auch ältere Zyperngriechen, die sich nach langen Jahren des Zauderns einen Ruck geben und den Nordteil Nikosias besuchen, um ihre Erinnerungen zu überprüfen.

Es ist sehr empfehlenswert, sich beide Seiten von Nikosia anzusehen. Auf der einen wie auf der anderen Seite der Barrikaden stehen die gleichen Häuser. Besonders auffällig sind die massiven Sandsteinbauten aus der britischen Kolonialzeit. Je näher die Häuser an der Grenze stehen, desto verfallener sehen sie aus. Auf beiden Seiten hat man begonnen, die Häuser zu restaurieren.


Starbucks und Stararchitektin
Der griechisch-zypriotische Süden ist bei der Instandsetzung der Häuser etwas weiter fortgeschritten. Aber im Laufe der Jahre hat auch hier der Charme des historischen Stadtzentrums darunter gelitten. In der Ledra Street, die jeder passiert, der den Checkpoint in der Altstadt benutzt, dominieren westliche Ladenketten. Hier setzte man auf Starbucks statt Turkish Coffee und engagierte Stararchitekten, um die städtischen Problemzonen wiederzubeleben. So führt die Ledra Street heute direkt auf einen aufwendig neu gestalteten Platz.
Der Elefthería-Platz wurde nach Plänen von Zaha Hadid Architects (London) 2021 nach 11-jähriger Bauzeit fertiggestellt. Auf zwei Ebenen dominieren geometrische Elemente. Spannend ist die Einbeziehung der alten venezianischen Stadtmauer aus dem 16. Jahrhundert und die Nutzung des alten Wehrgrabens als Grünanlage. Der Entwurf der Stararchitektin Zaha Hadid greift die Themen Trennung und Teilung auf, die Zypern und insbesondere Nikosia prägen. Die Formen beziehen sich auf die Grundform der alten Festung, einen Kreis mit den Zacken der elf Bastionen. Das stadtplanerische Gesamtkonzept geht weit über die Platzgestaltung hinaus und soll eines Tages die Wiedervereinigung von Stadt und Insel darstellen. Politische Lösungen dafür sind derzeit nicht in Sicht. Umso wichtiger ist es, dass Reisende und Einheimische ohne großen Aufwand zwischen beiden Teilen der Stadt pendeln können, um sich ein eigenes Bild zu machen und Freundschaften zu pflegen.
Auch im Norden, erzählt Nelin Tunç, nimmt der Instandsetzungsprozess an Fahrt auf. Paradoxerweise hat das auch mit der Pandemie zu tun. Die Grenzübergänge wurden während der Corona-Zeit wieder geschlossen. Die jungen Leute, die es gewohnt waren, Clubs und Restaurants im Süden der Stadt zu besuchen, entdeckten ihren eigenen Stadtteil. Das blieb auch nach der Pandemie so. Da das Bier in Nordzypern billiger und ein Restaurantbesuch erschwinglicher ist, kommen auch mehr Zyperngriechen und Touristen in den Norden.
Pufferzone im Blick
Nelin Tunç führt ihre Gruppen auch in weniger bekannte Ecken Nikosias. Auf dem Weg in die Pufferzone geht es durch das Samanbahçe Viertel. Es ist das erste Sozialwohnungsprojekt Zyperns. Die weiß getünchten Häuser wurden zwischen 1918 und 1925 von der Saban Pasha Stiftung errichtet. Der Komplex besteht aus 70 Häusern. Der sechseckige Brunnen in der Mitte der Anlage diente als zentrale Wasserversorgung für die Bewohner. Jedes Haus besteht aus zwei Räumen, Bad, Küche und einem privaten Innenhof. Damals wurden nur lokale Baumaterialien verwendet, die den klimatischen Bedingungen angepasst waren. Die Häuser sind bis heute bewohnt.
Mit einem Durchmesser von 1,6 Kilometern und in zwei Hälften geteilt, stößt man bei einem Stadtrundgang schnell auf die venezianische Stadtmauer, die die Altstadt umschließt. Entlang des alten Wehrgrabens mit direktem Blick auf den Süden der Stadt liegt das ehemalige Luxushotel Ledra Palace. Es ist seit langem das Hauptquartier der UN-Friedensmission. Auch hier befindet sich ein Grenzübergang, der von Fußgängern genutzt werden kann. Die Pufferzone ist hier wesentlich breiter als in der Altstadt. Direkt hinter dem griechisch-zypriotischen Checkpoint liegt das Goethe-Institut, das viele bikommunale Projekte für die Stadtgemeinschaft anbietet. Ein Stück weiter liegt das UN-Hauptquartier. Man kommt an einer Fotoausstellung vorbei, die die letzten offiziellen Gespräche zur Wiedervereinigung dokumentiert. Erst nach einigen hundert Metern folgt der türkisch-zypriotische Grenzposten.
Neben all den Grenzerfahrungen, die man in Nikosia im wahrsten Sinne des Wortes durchlaufen kann, gibt es auch Geschichten, die von Gemeinschaft und dem Streben nach Zusammenleben und Wiedervereinigung der Insel erzählen. Nelin Tunç führt ihre Gruppe zu einem Zaun oberhalb der venezianischen Stadtmauer und deutet auf einen schmucklosen Platz direkt hinter dem Zaun. Es ist der einzige Ort entlang der Green Line, an dem sich Menschen aus beiden Stadtteilen sehen können. Als während der Pandemie die Grenzen wieder geschlossen waren, erzählt sie, traf sich hier der bikommunale Chor und Zyprioten aus beiden Teilen haben gemeinsam gesungen. Der Büyük Han Coffee Club ist ein weiteres Beispiel für den Gemeinschaftssinn der Zyprioten. Seit 20 Jahren trifft man sich wöchentlich in der großen Karawanserei.
Reisetipp – Grenzenlos reisen
Um die Grenzen im eigenen Kopf zu überwinden, ist es hilfreich, bei der Reisevorbereitung nach lokalen Reiseveranstaltern und Guides Ausschau zu halten, die Reisende beim Besuch beider Teile Zyperns unterstützen. Mit dem Mietwagen von Nord nach Süd oder umgekehrt zu fahren, ist bei weitem nicht so einfach, wie die Checkpoints in Nikosia zu Fuß zu überqueren. Cyprus Travel ist ein ansässiger und auch deutschsprachiger Veranstalter, der Touren in alle Regionen Zyperns anbietet und zur Überquerung der Green Line ermutigen möchte. Von Mietwagenrundreisen, Wandertouren, Tagesausflügen zu Kulturstätten, mehrtägigen Inseltouren mit Hotelbuchung bis hin zu Stadtführungen ist alles dabei, was die Insel Zypern ausmacht. Auch eine Stadtführung durch Nikosia mit Nelin Tunç gehört dazu.
Zum Abschluss des Stadtrundgangs führt uns Nelin Tunç noch an einen für sie ganz besonderen Ort. Direkt am Kyrenia-Tor, am Eingang zum Park entlang der alten Stadtmauer, stehen die Skulpturen zweier Männer mit Hund. Dem einen legt sie die Hand auf die Schulter und stellt uns ihren Vater vor. Kemal Tunç war ein bekannter und beliebter zypriotischer Schauspieler, Theaterregisseur und Autor. Er schrieb die Sketche über Alikko und Caher, die das Alltagsleben der Nordzyprioten in den unruhigen und dramatischen 1960er Jahren zum Thema haben. Nelin Tunç, die in Wien Architektur studiert hat, bietet ihre Führungen durch Nikosia und andere Städte und Regionen Zyperns auf Deutsch, Türkisch und Englisch an.
Die Recherchereise wurde von Cyprustravel unterstützt.