In Deutschland gelten Comics oft als Kinderkram mit Sprechblasen. In Frankreich ist das anders. Dort genießt die Bande Dessinée = Comicstrip (wörtlich „gezeichnetes Band“) den Status einer Kunstform, die zwischen Literatur und Bildender Kunst steht. Die Franzosen sprechen vom Neuvième Art, der Neunten Kunst. Nach Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Poesie, Theater, Kino und Fotografie nimmt der Comic den neunten Platz im Kanon der Künste ein. Diese Einordnung, entstanden in den 1960er Jahren, ist mehr als ein Begriff: Sie spiegelt eine Überzeugung wider. Comics sind in Frankreich nicht nur Kinderlektüre. Sie stehen in Buchhandlungen neben Romanen, werden in Zeitungen wie Ausstellungen rezensiert und in Schulen wie Gedichte analysiert.


Angoulême, die Hauptstadt des Départements Charente mit 42.000 Einwohnern, hat ihre Liebe zur Bande Dessinée zur Identität gemacht. Was in den 1970er Jahren mit einem kleinen Comic-Festival begann, ist heute UNESCO-Kulturerbe. 2009 verlieh die UNESCO Angoulême den Titel „Creative City of Literature“ – eine Auszeichnung, die auch die Verbindung von Comics und Stadtentwicklung würdigt.

Doch die Geschichte dieser Leidenschaft beginnt nicht in den Straßen, sondern am Stadtrand – und sie reicht weiter zurück, als viele denken.
Zig, Puce und Alfred der Pinguin
Wer heute nach Angoulême fährt, übersieht leicht ein Relief am Straßenrand: zwei Jungen und ein Pinguin. Es sind Zig und Puce mit Alfred, ihrem treuen Begleiter – Figuren, die seit 1925 die französische Comicszene beeinflussen. Zig et Puce von Alain Saint-Ogan war revolutionär. Saint-Ogan führte klare Linien, Sprechblasen und durchgehende Erzählstrukturen ein – Stilmittel, die heute selbstverständlich sind. Seine Mischung aus Humor, Abenteuer und Technik setzte Maßstäbe. Dass diese Pioniere des französischen Comics Besucher schon vor der Stadt begrüßen, ist kein Zufall. Es ist ein Statement: Hier beginnt das Reich der Neunten Kunst. 1974 wurde Alfred, der Pinguin, zum Maskottchen des Internationalen Comic-Festivals in Angoulême. Der Festivalpreis trägt bis heute seinen Namen.

Eine Anekdote aus den Anfangstagen zeigt den improvisierten Start: Das erste Festival wurde so kurzfristig organisiert, dass die Veranstalter bis zuletzt nicht wussten, ob genug Verlage und Künstler kommen würden. Am Ende kamen sie alle – und blieben. Heute zählt das Festival d’Angoulême neben der Comic-Con in San Diego und der Frankfurter Buchmesse zu den wichtigsten Veranstaltungen der Branche.
Asterix und Obelix
Mit großen Wandgemälden ehrt Angoulême zwei ihrer wichtigsten Schöpfer. René Goscinny, 1926 in Paris geboren und 1977 viel zu früh gestorben, war der geniale Texter hinter den erfolgreichsten französischen Comics des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Albert Uderzo, der 2020 im Alter von 92 Jahren starb, bewies er, dass Comicstrips Weltliteratur sein können.

Das monumentale Wandgemälde Die Welt von René Goscinny, geschaffen von Moon & Catel, ist mehr als eine Hommage – es ist ein Familienporträt der französischen Comic-Kultur. Goscinny schrieb mit Morris die Texte für Lucky Luke, den Cowboy, der schneller zieht als sein Schatten. Mit Uderzo schuf er Asterix und Obelix, die unbeugsamen Gallier, die in über 110 Sprachen übersetzt wurden. Mit Jean-Jacques Sempé erfand er Le Petit Nicolas, den frechen Schuljungen, der Generationen französischer Kinder begleitete. Und mit Jean Tabary schuf er Iznogoud, den größenwahnsinnigen Wesir, der unbedingt Kalif werden wollte – „an Stelle des Kalifen“.

Die Ära der Wandgemälde
Ende der 1970er Jahre geschah etwas Neues: Comics verließen die Druckseiten und eroberten die Wände. Was mit wenigen Fresken begann, wurde ein Phänomen. Angoulême wollte nicht nur während des Festivals Comic-Stadt sein, sondern das ganze Jahr. Das älteste erhaltene Wandgemälde zeigt Natacha und den kleinen Bout d’Chique – ein frühes Beispiel dafür, wie Comics ihr Papierformat sprengten und monumentale Dimensionen annahmen.

Die Künstler und ihre Geschichten
François Boucq, Yslaire, François Schuiten, Franquin, Frank Margerin, Nicolas de Crécy, TURF, ZEP, Florence Cestac, Max Cabanes und CATEL hinterließen ihre Kunst auf Angoulêmes Mauern. Die Rue Hergé ist eine Pilgerroute für Fans des belgischen Meisters. Hier steht die Büste von Georges Prosper Remi, bekannt als Hergé. Tim und Struppi – im Original Tintin et Milou – sind zwar belgisch, doch Angoulême feiert die frankophone Comic-Kultur als Einheit, unabhängig von Grenzen.

Am Place Marengo findet sich ein weiteres belgisches Meisterwerk: André Franquins Gaston Lagaffe und Léon Prunelle. Die Wandmalerei zeigt Gaston, der auf seinem „Gaffophon“ spielt – einer Harfe, die nur unerträgliche Geräusche produziert. Darunter explodiert Prunelle vor Wut. Die vertikale Komposition nutzt die Architektur, um die Beziehung zwischen dem chaotischen Untergebenen und seinem gestressten Chef darzustellen. Franquin, der von 1924 bis 1997 lebte, war ein Meister des visuellen Humors. Seine Figuren – von Spirou über Marsupilami bis Gaston – beeinflussten Generationen.

Science-Fiction am Stadtwall
Am Rempart de l’Est, dem östlichen Stadtwall, entfaltet sich die ganze Vielfalt der Bande Dessinée. Philippe Druillet, ein Meister der Science-Fiction-Comics, entwirft hier eine monumentale, intergalaktische Vision. Sein Werk erinnert an George Lucas‘ Star Wars und zeigt: Comics erobern jeden Schauplatz, von mittelalterlichen Stadtmauern bis zu fernen Galaxien. Angoulême vereint Alltag und Fantasie: Autos kreisen im Verkehr, ein historischer Kirchturm ragt empor – und an den Fassaden fliegen Raumschiffe durch fremde Welten.

Trompe-l’œil und architektonische Illusionen
Manche Wandgemälde spielen mit der Grenze zwischen Architektur und Malerei. Sie verwandeln leere Fenster in bewohnte Räume, lassen Figuren aus Wänden treten oder erzeugen optische Täuschungen. In der Rue Louis Barthou, über der Brasserie L’Esplanade, unterhalten sich drei Gauner durch Fenster: die Pieds Nickelés. Die ursprüngliche von Louis Forton geschaffene Serie lief ab 1908, zunächst im klassischen Text-unter-Bild-Format, später mit Sprechblasen. Ribouldingue, Filochard und Croquignol – drei sympathische Ganoven – sind Ikonen der Popkultur.
Ein Meisterwerk der Integration von Kunst und Architektur ist Max Cabanes’ La fille des remparts. Eine Frau lehnt sich auf eine gemalte Stadtmauer, die sich nahtlos in die echte Mauer einfügt. Hier verschmelzen Illusion und Realität, Vergangenheit und Gegenwart.
Meta-Comics und philosophische Fragen
Marc-Antoine Mathieus Réalité, Sortie de Secours (Realität, Notausgang) gehört zu den intellektuell anspruchsvollsten Wandgemälden Angoulêmes. Die Figuren scheinen buchstäblich aus der Wand hervorzubrechen, als würden sie aus ihrer gezeichneten Welt in unsere Realität fliehen. Die Sprechblasen erzählen eine meta-fiktionale Geschichte: „Sehen Sie etwas?“ – „Ja, schauen Sie. Es ist genau das, was ich befürchtet habe.“ – „Was, schon wieder eine Unterwelt?“ – „Schlimmer als das. Es ist die Realität.“
Diese Wandmalerei ist typisch für Mathieus Werk, das ständig die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit hinterfragt. Seine Serie Julius Corentin Acquefacques spielt genau mit diesen Ebenen. Hier wird der Notausgang zur philosophischen Frage: Was, wenn unsere Realität für andere nur eine gezeichnete Welt ist?
Nicht alle Wandgemälde sind spektakulär. Manche erzählen leise Geschichten: In der Rue Léonard Jarraud finden wir auf einer Haustür ein Gemälde, das einen kleinen Jungen zeigt, der sich vergeblich streckt, um einen Brief in den echten Briefkasten zu werfen. Ein simpler Moment, der an die Ursprünge des Comics erinnert. Geschichten von kleinen Momenten mit großer Bedeutung.
Yslaire und der Schatten
Das außergewöhnlichste Wandgemälde von Angoulême ist zugleich das rätselhafteste. Es fordert den Betrachter zu einem Rundum-Blick auf, der den gesamten Platz einbezieht.
Im Square Saint-André prangt Yslaires Mémoires du XXe Ciel (Erinnerungen des 20. Himmels), das als romantischstes und tragischstes aller Wandbilder gilt. Die Komposition zeigt Figuren in melancholischer Nostalgie – typisch für Yslaire, der mit Sambre und XXe Ciel berühmt wurde. Doch das Besondere offenbart sich erst beim genauen Hinsehen: Auf der rechten Seite des Freskos fällt ein Schatten auf das Bild. Woher kommt er? Er gehört nicht zur Komposition.
Die Antwort liegt gegenüber: Dort hängt eine geflügelte Figur an einer Art Nabelschnur. Sie wirft ihren Schatten gezielt auf das Hauptwerk – ein künstlerischer Dialog zwischen zwei Wandmalereien, die nur zusammen ihre volle Bedeutung entfalten. Diese doppelte Komposition, 1999 von der Künstlervereinigung Cité Création nach Yslaires Entwurf umgesetzt, ist mehr als ein visuelles Spiel. Der Schatten symbolisiert unsichtbare Verbindungen, die Erinnerungen und Schicksale verweben. Die Figur – noch an die Nabelschnur gebunden, aber schon mit Flügeln – steht für den Übergang zwischen Gebundenheit und Freiheit, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Yslaire nutzt eine Metapher für die menschliche Existenz: Der Schatten der Vergangenheit schwebt über der Gegenwart. Was war, prägt uns, oft unbemerkt. Erst wenn wir uns umdrehen, den Blick heben, die Perspektive wechseln, erkennen wir die ganze Geschichte.
Dieses Wandbild fordert vom Betrachter, was die besten Comics verlangen: aktive Teilnahme. Man muss sich bewegen, den Raum erkunden, die Verbindungen selbst entdecken. Yslaires Werk ist mehr als ein Bild – es ist eine Choreografie, die den Platz zur Bühne macht.
Von Titeuf bis zum Baron Noir
Alle Wandgemälde spiegeln die Vielfalt der Bande Dessinée wider – von Klassikern bis zu gesellschaftskritischen Comics. ZEPs Titeuf zeigt einen frechen Jungen mit blonder Haartolle, der die Absurditäten der Erwachsenenwelt kommentiert. Eine Wandmalerei fängt den Humor der Serie ein: Titeuf sitzt in einem Büro und wird gefragt, ob er Informatiker oder Mechaniker werden will – eine Szene, die die Kluft zwischen kindlicher Sicht und Erwachsenenerwartungen zeigt.
Gesellschaftskritisch wird es bei Le Baron Noir von Got und Pétillon. Ein Vogel fragt: „Habt ihr es nicht satt, mit der Herde zu laufen?“ – eine provokante Botschaft, typisch für die französische Bande Dessinée.
Eine Stadt als Comic
Angoulême zeigt, wie eine Stadt selbst zum Kunstwerk wird. Die Wandgemälde sind keine Dekoration, sondern Ausdruck einer kulturellen Überzeugung. Comics erzählen Geschichten, und öffentlicher Raum kann Identität transportieren. Kultur und Alltag, Kunst und Wirtschaft bereichern sich hier gegenseitig. Neben einem der ältesten Wandgemälde blüht die Tattoo-Szene. Comics und Tattoos – beide erzählen Geschichten auf Oberflächen, ob Beton oder Haut.
Wer die Wandgemälde erkunden will, nutzt die App Loopi, bucht eine Tour beim Office de Tourisme oder folgt einer Geocaching-Route.
Highlights in Nouvelle-Aquitaine
Die Charente windet sich auf 380 Kilometern durch die französische Region Nouvelle-Aquitaine. Ihr Lauf führt vom bergigen Quellgebiet über sanfte Hügel und Weinberge bis zu den maritimen Auen an der Mündung. Ab Angoulême, der französischen Hauptstadt der Comics, ist der Fluss bis zum Atlantik bei Rochefort schiffbar. Einst diente er als Hauptverkehrsweg für die Cognacproduktion. Heute laden Cognac-Häuser und Winzer zum Spiritourismus ein, während Radwege wie der Flow Vélo an malerischen Dörfern, alten Steinbrücken, einer seltenen Schwebefähre, Wassermühlen, Burgen und der Altstadt von Angoulême vorbeiführen. Die Charente gilt noch als Geheimtipp, gehört sie doch zu den ursprünglichsten Flusslandschaften Frankreichs: kaum Massentourismus, dafür viel Natur, Ruhe und Genuss. Die kleine Insel Aix war einst ein Bollwerk zum Schutz der Charente-Mündung vor feindlichen Flotten, heute beliebt für einen Tagesausflug ans Meer. Auch abseits der Charente gibt es in Nouvelle-Aquitaine viel zu entdecken. Zum Beispiel ließ uns aufgespießte Tellerkunst mal wieder über den Tellerrand blicken. Die Stadt Poitiers liegt auf halber Strecke zwischen Paris und Bordeaux war Machtzentrale des Mittelalters und bietet mit dem Freizeitpark Futuroscope immersives Kino. Die Stadt Limoges ist bekannt für französisches Porzellan, schon ein Stadtrundgang bietet Einblicke in die Porzellankunst. Großartige Museen zur Geschichte der Porzellankunst gibt es auch. Weiter geht’s in die Region Creuse und Berry. Es ist die Heimat der Schriftstellerin George Sand und die Wiege der Tapisserie in Frankreich. In Ein Teppich für George Sand werden beide Themen miteinander verknüpft. Das Teppiche keine verstaubte Kunst vergangener Zeiten sind zeigt die Cité internationale de la Tapisserie in Aubusson.
Die Recherche wurde von Nouvelle-Aquitaine Tourismus und Angoulême Tourisme unterstützt