Blick nach Kassel zur documenta14

Kunstreisende hatten im Sommer 2017 ein volles Programm zu absolvieren. Die 14. documenta fand 2017 an zwei Orten statt. Beginnen konnte man bereits im Frühsommer in Athen. Diese Doppelstruktur, der Kurator Adam Szymczyk den Arbeitstitel Von Athen lernen gab, hat in Athen wie in Kassel immer wieder inhaltliche Bezüge zur jeweils anderen Stadt geknüpft.

Kassel schickt Rauchzeichen vom Zwehrenturm. Künstler Daniel Knorr will mit diesem Rauch „Warme Signale“ nach Athen senden. Eigentlich sollte der Rauch immer dann aufsteigen, wenn auch die documenta in Athen geöffnet ist. Aber nun schickt Kassel auch nach dem Ende der d14 in Athen weiter warme Rauchzeichen vom Zwehrenturm / © Foto: Georg Berg
Kassel schickt Rauchzeichen vom Zwehrenturm. Künstler Daniel Knorr will mit diesem Rauch „Warme Signale“ nach Athen senden. Eigentlich sollte der Rauch immer dann aufsteigen, wenn auch die documenta in Athen geöffnet ist. Aber nun schickt Kassel auch nach dem Ende der d14 in Athen weiter warme Rauchzeichen vom Zwehrenturm / © Foto: Georg Berg
Seit 1955 ist Kassel documenta-Stadt / © Foto: Georg Berg
Seit 1955 ist Kassel documenta-Stadt / © Foto: Georg Berg

Alle fünf Jahre steht Kassel ganz im Zeichen zeitgenössischer Kunst. Installationen, Performances und Vorträge finden an den unterschiedlichsten Orten statt. Als Ausstellungsort neu hinzugekommen ist die Hauptpost, ein schmuckloser Zweckbau, der in Plänen und Übersichten der Kunstschau euphemistisch die „Neue, Neue Galerie“ genannt wird. Für das größte Werk, das Kurator Szymczyk nach Kassel geholt hat, muss man aber nicht ins Museum. Das Parthenon der Bücher der argentinischen Künstlerin Marta Minujin steht unübersehbar im Herzen von Kassel vor dem Fridericianum.

Das Parthenon der Bücher – und täglich wird die Konstruktion, die in ihrer Dimension ein Nachbau des Tempels auf der Akropolis ist, massiver und mit weiteren Büchern bestückt / © Foto: Georg Berg
Das Parthenon der Bücher – und täglich wird die Konstruktion, die in ihrer Dimension ein Nachbau des Tempels auf der Akropolis ist, massiver und mit weiteren Büchern bestückt / © Foto: Georg Berg

Von Athen lernen – die erste Demokratie

Der imposante „Kunstbau“ ist ein Zeichen gegen das Verbot von Texten und die Verfolgung ihrer Autoren. Für die Realisierung des Werks haben die argentinische Künstlerin Marta Minujín und die Organisatoren der documenta 14 Bücher gesammelt, die nach Jahren des Verbots wieder verlegt werden oder in einigen Ländern legal verbreitet, in anderen aber untersagt sind. Die Installation wird in Kassel nach dem Vorbild des Tempels auf der Athener Akropolis errichtet. Ästhetisch und politisch verkörpert dieser Tempel das Ideal der ersten Demokratie der Menschheit.

Die argentinische Künstlerin Marta Minujin hat unzählige Bücher zum einem Parthenon errichtet / © Foto: Georg Berg
Die argentinische Künstlerin Marta Minujin hat unzählige Bücher zum einem Parthenon errichtet / © Foto: Georg Berg

Bis zu 100.000 verbotene Bücher aus der ganzen Welt bilden das Werk auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Genau an dieser Stelle wurden im Mai 1933 im Zuge der sogenannten „Aktion wider den undeutschen Geist“ rund 2.000 Bücher verbrannt. 1941 fing das Fridericianum, damals noch Bibliothek, während eines Bombenangriffs der Alliierten Feuer und ein Buchbestand von ca. 350.000 Büchern ging verloren.

Bücher im Plastikmantel. Mittlerweile sind fast alle Säulen mit Büchern bestückt. Zum Ende der documenta wird das Parthenon zurückgebaut – Bücher werden an Besucher verschenkt, die Plastikfolie soll recycelt werden / © Foto: Georg Berg
Bücher im Plastikmantel. Mittlerweile sind fast alle Säulen mit Büchern bestückt. Zum Ende der documenta wird das Parthenon zurückgebaut – Bücher werden an Besucher verschenkt, die Plastikfolie soll recycelt werden / © Foto: Georg Berg

Minujíns Parthenon der Bücher geht zurück auf eine Installation aus dem Jahr 1983 mit dem Titel El Partenón de libros, die kurz nach dem Zusammenbruch der argentinischen zivil-militärischen Diktatur genau jene Bücher zeigte, die während der Diktatur verboten waren. Nach fünf Ausstellungstagen kippten zwei Kräne die Installation leicht zur Seite, so dass die Anwesenden die Bücher mitnehmen konnten. Auch für den Parthenon in Kassel ist zum Ende der documenta 14 eine gemeinsame Aktion mit der Öffentlichkeit geplant, um die Bücher wieder kursieren zu lassen.

Die Anfänge der documenta in Kassel

1955 rief Arnold Bode, Künstler, Kunstprofessor, Kurator und Kasselaner die erste documenta ins Leben. Damals galt sie als Ausstellung westeuropäischer moderner Kunst.

Im Laufe der nun 14 Ausstellungen, die in einem Turnus von 5 Jahren stattfindet, hat sich die documenta stetig weiterentwickelt. Sie ist zu einem Ort großer Debatten über zeitgenössische Kunst und der jeweils aktuellen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge geworden.

Kunst-Relikte: Einst ein umstrittenes Kunstwerk, dass die Kasselaner genervt hat. Der „Vertikale Kilometer“ von Walter de Maria verwandelte den Platz vor dem Fridericianum im Jahre 1977 zu einem lärmenden Bohrfeld / © Foto: Georg Berg
Kunst-Relikte: Einst ein umstrittenes Kunstwerk, dass die Kasselaner genervt hat. Der „Vertikale Kilometer“ von Walter de Maria verwandelte den Platz vor dem Fridericianum im Jahre 1977 zu einem lärmenden Bohrfeld / © Foto: Georg Berg
Damals wurde auch Joseph Beuys für tendenziell bekloppt gehalten. Er ließ zur documenta 7 fünf Jahre später 7.000 Eichen im Stadtgebiet von Kassel pflanzen und daneben jeweils einen Steinquader platzieren. Heute ist Kassel – auch wegen dieses documenta Projekts von Joseph Beuys grüner und schöner / © Foto: Georg Berg
Damals wurde auch Joseph Beuys für tendenziell bekloppt gehalten. Er ließ zur documenta 7 fünf Jahre später 7.000 Eichen im Stadtgebiet von Kassel pflanzen und daneben jeweils einen Steinquader platzieren. Heute ist Kassel – auch wegen dieses documenta Projekts von Joseph Beuys grüner und schöner / © Foto: Georg Berg

Einkaufen auf der documenta – Kunst zum Mitnehmen

Konsum, Handel und auch der Narzismus der Menschen wird auf der Kunstschau thematisiert. Es gibt einige Kunstwerke, die man käuflich erwerben kann. Frauen aufgepasst, sogar Schuhe gehören dazu! Allerdings ist es nicht damit getan einen Geldschein stumm über die Ladentheke zu schieben oder die Kreditkarte zu zücken. Man muss vor allem auch kommunizieren, um an das Kunstwerk zu kommen. Wie das vonstatten geht, sei am Beispiel von einem Stück Seife und ein Paar Schuhen erklärt.

Das eigene ICH im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Sockel zur Selbsterhöhung auch ein bleibendes Andenken einer Documenta Schau ist direkt und dauerhaft vor den Torwachen zu finden / © Foto: Georg Berg
Das eigene ICH im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Sockel zur Selbsterhöhung auch ein bleibendes Andenken einer Documenta Schau ist direkt und dauerhaft vor den Torwachen zu finden / © Foto: Georg Berg
Der Spiegel, das Selfie und ich! Und die Kunst? So mancher Besucher sieht nur das eigene Ich im Kontext der Ausstellung im Friedericianum auf der documenta 14, Kassel / © Foto: Georg Berg
Der Spiegel, das Selfie und ich! Und die Kunst? So mancher Besucher sieht nur das eigene Ich im Kontext der Ausstellung im Friedericianum auf der documenta 14, Kassel / © Foto: Georg Berg

Carved to Flow – die Poesie der Seife

Man weiß nie genau, wo sie sich gerade aufhalten, die Performer, die in ihrem Bauchladen die poetische Arbeit „Carved to flow“ der nigerianischen Künstlerin Otobong Nkanga mit sich tragen. Am besten man wandert ein wenig an der Schönen Aussicht unweit der Neuen Galerie entlang, dann hat man die Chance, in ein Kaufgespräch einzusteigen.

Mit einem runden Bauchladen, der Mulden für Seifenlauge und Pflanzen hat und in einen bedruckten Poncho gekleidet, erklären die Performer die Tradition der Seifenproduktion, die verschiedenen Öle, die in den schwarzen Würfeln verarbeitet sind, die Kohle, die alle Gerüche unterdrückt und wie sich alle Bestandteile der Seife, wenn sie mit dem Element Wasser in Berührung kommen wieder an die Erde abgegeben werden.

Verkäufer und Erzähler in einem: der Kunststudent Viktor in vollem Ornat für das Kunstprojekt Carved to Flow. Im Hintergrund ein Teil der Seifenproduktion von 45.000 Stück, die in Athen und Kassel für je 20 Euro verkauft werden / © Foto: Georg Berg
Verkäufer und Erzähler in einem: der Kunststudent Viktor in vollem Ornat für das Kunstprojekt Carved to Flow. Im Hintergrund ein Teil der Seifenproduktion von 45.000 Stück, die in Athen und Kassel für je 20 Euro verkauft werden / © Foto: Georg Berg

Die Performer erzählen von der Anordnung einer Dorfgemeinschaft in Afrika, die zum Symbol auf jedem Seifenstück werden, rezitieren Gedichte, die in die Verpackung der Seife gedruckt wurden und sprechen über den Gedanken des Teilens und Weitergebens. Und darüber, dass man zuhören und Fragen stellen sollte, dem Produkt Aufmerksamkeit schenken und mit dem Preis von 20 Euro das Kunstprojekt aus Nigeria weiterleben lässt. Erst durch das Gespräch und das Zuhören wird das Stück Seife zu einem wirklich guten „Andenken“ an die documenta 14.

Mitten im Verkaufsgespräch: Angela Berg fragt Kunststudenten Viktor nach den 7 Ölen der Seife von Künstlerin Otobong Nkanga / © Foto: Georg Berg
Mitten im Verkaufsgespräch: Angela Berg fragt Kunststudenten Viktor nach den 7 Ölen der Seife von Künstlerin Otobong Nkanga / © Foto: Georg Berg

Yugo-Export von Irena Haiduk

Ein Hinweisschild hängt im Treppenhaus vor dem Raum der serbischen Künstlerin Irena Haiduk in der Hauptpost alias Neue Neue Galerie. Der langgestreckte und für die Hauptpost geradezu elegante Raum besteht aus dem Yugoexport-Shop und einen Laufsteg. Es gibt keinerlei Handlungshilfen für die konsumfreudige documenta-Besucherin. Ausschließlich Stöbern geht nicht. Man muss auch hier das Gespräch suchen und nach der Ware fragen. Das ist vermutlich Teil des Konzepts.

Objekt weiblicher Begierde: Der Borsana-Schuh von Jugo-Export. Ein Schuh dessen Preis sich nach dem persönlichen Einkommen richtet / © Foto: Georg Berg
Objekt weiblicher Begierde: Der Borsana-Schuh von Jugo-Export. Ein Schuh dessen Preis sich nach dem persönlichen Einkommen richtet / © Foto: Georg Berg

Die Ware, das ist in diesem Fall ein ergonomischer schwarzer Schnürschuh aus Canvas mit offener Spitze. Zwar waren die legendären Borosana-Schuhe, die alle Mitarbeiterinnen der Athener und Kasseler documenta tragen, zu Beginn der Schau gleich wieder ausverkauft.

Doch auch nach einer frischen Warenlieferung werden Produkte wie Kleider, Blusen und eben jener legendäre Gesundheitsschuh hinterm Tresen gehalten. Auf Nachfrage bekommt man dann seine Größe in einem blauen Schuhkarton gereicht.

Geschafft – Vertrag unterschrieben und Schuhe geschnürt. Angela Berg mit Borosana Schuhen von Irena Haiduk / © Foto: Georg Berg
Geschafft – Vertrag unterschrieben und Schuhe geschnürt. Angela Berg mit Borosana Schuhen von Irena Haiduk / © Foto: Georg Berg

Die Borsanas wurden in den 1960er Jahren in Jugoslawien für Putzfrauen und Kellnerinnen entwickelt. Nach langer Entwicklungsphase verordnete der Jugoslawische Staat diesen Schuh allen arbeitenden Frauen, damit sie schmerzfrei und mit entspanntem Rücken durch einen 10-Stunden-Tag kamen. Den Bezug zur Arbeitswelt hält auch die Künstlerin aufrecht. Zum einen ist Teil des Verkaufsgespräch mit der Kundin die Selbsteinschätzung ihrer Lebenssituation. Danach richtet sich der Preis für ein Paar Schuhe. Zudem unterschreibt Frau einen Vertrag, in dem sie sich verpflichtet, diese Schuhe ausschließlich bei der Arbeit zu tragen. Die abgeschlossenen Verträge werden wiederum zu einem Teil des Kunstprojektes zusammengefasst.

documenta – Debatten und Denkanstösse

Immer wieder geht es bei der documenta um Krieg. Dafür steht auch der Panzer „Polemos“, den Andreas Angelidakis im Fridericianum aufgebaut hat. Die Sitzmodule sind aus Vinyl und Schaumstoff in Flecktarnfarbe. Der Künstler hat sie zu einem flexiblen Panzer arrangiert. Das Kriegswerkzeug wird zur Kuscheloase und doch lebt beim Betrachter das Bild von Krieg und Zerstörung auf.

Krieg – immer wieder ein Thema auf der documenta. Sitzmodule in Fleckentarnung werden zweimal in der Woche in einer Performance zu einem Panzer in Originalgröße zusammengebaut / © Foto: Georg Berg
Krieg – immer wieder ein Thema auf der documenta. Sitzmodule in Fleckentarnung werden zweimal in der Woche in einer Performance zu einem Panzer in Originalgröße zusammengebaut / © Foto: Georg Berg

Ibrahim Mahama aus Ghana mit einem spektakulären Außenkunstwerk. Die Verhüllung der Torwachen. Die Jute-Säcke werden in Asien hergestellt, in aller Welt vertreiben und in Ghana zum Verpacken von Kakao für den Export nach Amerika und Europa verwendet. In diesen Säcken materialisiert sich die Geschichte des Welthandels, die auch heute noch oft von Ausbeutung erzählt. Besonders Kakaobohnen stehen für Niedrigstlöhne, Kinderarbeit und Umweltzerstörung.

Die Verhüllung der Torwachen mit Jutesäcken von Ibrahim Mahama aus Ghana / © Foto: Georg Berg
Die Verhüllung der Torwachen mit Jutesäcken von Ibrahim Mahama aus Ghana / © Foto: Georg Berg
Performance: Studenten nähen die vielen Jutesäcke aneinander. Die gleiche Aktion fand auch in Athen statt / © Foto: Georg Berg
Performance: Studenten nähen die vielen Jutesäcke aneinander. Die gleiche Aktion fand auch in Athen statt / © Foto: Georg Berg

Kassel ist einen Besuch wert und das nicht nur zur documenta-Zeit. In den Wochen der großen Kunstschau strömen Besucher aus aller Welt in die nordhessische Stadt. Konzert, Performances oder auch vielfältige Streetfood-Angebote bereichern das Stadtbild. Fakt ist aber auch, dass nach über 60 Jahren documenta in Kassel – viele Kunstwerke in der Stadt geblieben sind, die Dichte an Museen beeindruckend ist und die Wassespiele im Bergpark Wilhelmshöhe, der seit 2013 zum Weltkulturerbe zählt, bieten jedes Jahr ab Mai imposante Wassergewalt – ein Städtetripp nach Kassel lohnt sich auch außerhalb der documenta-Jahre.

Die etwas andere Unterkunft: Renthof in Kassel – Historie und Zeitgeist

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