Gastbeitrag von Noriko Hasegawa: Meine europäische Eisenbahn-Rhapsodie
Am ersten Freitag im Oktober begab ich mich auf eine Zugreise nach Paris, um meiner Nichte, die dort seit diesem Sommer Gesang studiert, einen Koffer mit japanischen Leckereien zu bringen. Von Japan kommend habe ich zunächst Angela und Georg einen Besuch abgestattet, denen ich vor Jahren in Japan bei Recherchen geholfen habe.
Nach der Bahn-App, über die ich vor meiner Abreise noch in Japan gebucht hatte (und dem Papierticket, das ich sicherheitshalber ausgedruckt hatte), war die Reiseroute eigentlich einfach: 13:42 Uhr Abfahrt von Köln mit dem ICE 314 nach Brüssel, dann Umsteigen in den Eurostar, Ankunft am Gare du Nord um 17:38 Uhr. Eine Reiseduer von etwas mehr als 500 km in weniger als vier Stunden. Da ich schon einmal lange Strecken mit dem Zug in Europa zurückgelegt hatte, wusste ich, dass ich es lieber vermeiden wollte, während der Fahrt auf die Toilette zu müssen. Doch die Vorstellung, mich von Deutschland zu verabschieden, ohne ein Bier zu trinken, schien mir nicht realisierbar. Mit Georg, der mich mit meinem Gepäck freundlicherweise nach Köln begleitet hatte, ging ich in das große Brauhaus am Bahnhofsvorplatz. Während wir unser Bier genossen, drehte sich unser Gespräch um die Liste der Kölner Regeln (Kölsches Grundgesetz), die wir zuvor auf einem Souvenirbecher in der Kölner Touristeninformation gesehen hatten. Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, aber an die folgenden drei erinnere ich mich genau:
- Es gibt Dinge, die sich unserer Kontrolle entziehen; wenn das passiert, müssen wir es akzeptieren. Et es wie et es
- Sich um die Zukunft zu sorgen ist sinnlos; was auch immer geschehen wird, wird geschehen. Et kütt wie et kütt
- Welche Schwierigkeiten auch immer auftreten, am Ende wird alles gut werden. Et hätt noch immer jot jejange
Noch ahnte ich nicht, dass diese Regeln während der bevorstehenden Bahnfahrt mächtig auf die Probe gestellt werden würden. Bis zum letzten Moment saß ich zwischen den großen, ausgelassenen Deutschen, die mitten am Nachmittag ihre Getränke genossen, und trank das Bier vor mir aus.
Die Pilgerreise beginnt
Gegen 13:20 Uhr verließen Georg und ich die Bierhalle, um meinen Koffer und meine Tasche aus einem Münzschließfach zu holen. Das war nicht irgendein Schließfach – oh nein. Es handelte sich um einen dieser schicken Automaten, bei dem man einen Verschluss öffnet, sein Gepäck auf ein Tablett legt und auf Knopfdruck das Tablett im Untergrund oder an einen anderen geheimnisvollen Ort verschwindet. Als wir zurückkamen, tippten wir den Code von der Quittung ein, und siehe da, mein Gepäck tauchte wie von Geisterhand wieder auf! Ich war beeindruckt von diesem Wunderwerk deutscher Effizienz – aber meine Bewunderung währte nicht lange.
Nun schaute ich auf die Abfahrtstafel, aber kein ICE 314. Ich schaute noch einmal nach. Immer noch kein ICE 314. Was ist denn da los? Georg und ich eilten zum Informationsschalter. Und da schlug die Bombe ein. Der Zug ist gestrichen worden! Nein, es kommt noch besser. Der Ersatzzug war auch schon vor einer Stunde abgefahren. „Das kann doch nicht wahr sein!“, schrie mein Gehirn. Aber das steinerne Gesicht des Mannes am Schalter sagte nur: „Die Sonne geht im Osten auf, und Züge fallen aus. Finde dich damit ab.“
Ich wollte meinen eigenen Augen und Ohren nicht trauen, aber dann erinnerte ich mich wieder daran – ich bin in einem fremden Land. Meine Version von Normalität gilt hier nicht. Nach Scherzen war mir kaum zumute, aber sollte ich nicht sofort die Kölner Regel 1 befolgen? Es gibt Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben; wenn das passiert, müssen wir es akzeptieren! Aber keine Zeit, darüber nachzudenken! Wir eilten zum Fahrkartenschalter, um uns nach dem Ersatzzug zu erkundigen, und dann kam der eigentliche Schock.
Die DB hatte für einige Zeit größere Reparaturarbeiten in Angriff genommen, was bedeutete, dass Strecken im ganzen Land geschlossen, Bahnhöfe geändert, Routen umgeleitet und Reisezeiten verlängert wurden. Solche Warnungen hatte ich schon vor meiner Ankunft in Deutschland gehört, aber ich hätte nie gedacht, dass tatsächlich ein Hochgeschwindigkeitszug wie der ICE ausfallen würde. Ich ging davon aus, wenn man über die App eine Fahrkarte buchen kann und diese mit dem prächtigen DB-Logo bedruckt ist, der Zug doch sichersein muss. Wie sich herausstellte, war das der DB völlig egal.
Leider hatte ich im Lotto verloren
Anscheinend waren 80 % der Fahrgäste über die DB-App oder ähnliches über die Annullierung informiert worden. Doch die unglücklichen 20% von uns, die eine andere App benutzt hatten – jedenfalls keine deutsche – wurden völlig im Unklaren gelassen. Die Dame am Fahrkartenschalter seufzte mit dem Mitgefühl eines Menschen, der solche Katastrophen kennt: „Sie gehören leider zu den unglücklichen 20 %.“ Sie druckte eine Liste mit alternativen Zügen aus, und zwar mit einer Effizienz, die vermuten ließ, dass dies für sie eine ganz normaler Tätigkeit war. Und was hat sie mir gegeben? Einen A4-Ausdruck mit Zügen – zwei Seiten lang! Als ich ihn sah, wäre ich fast zusammengebrochen. Aber jetzt war keine Zeit mehr zum Aufgeben. Ich nahm all meine Entschlossenheit zusammen und riss mich zusammen. Ich wollte mich nicht geschlagen geben!
Stöhnend und außer Atem kletterten wir in den Zug. Zu meinem Glück war der erste Zug auch für Georgs Rückfahrt geeignet, so dass er bis zum nächsten Umsteigebahnhof bei mir blieb und mir half, meinen Koffer in den nächsten Zug zu schleppen. Was für ein Lebensretter! Ich fühlte mich schrecklich, weil wir keine Zeit für einen richtigen Abschied oder ein anständiges Dankeschön hatten, aber wir sind erwachsen – wir werden bei unserem nächsten Treffen (hoffentlich) darüber lachen. Wir winkten uns zum Abschied zu, während ich in meinem Sitz zusammensackte. Mein Puls raste mit 200 Schlägen pro Minute und mein Blutdruck ging mit 200/100 wahrscheinlich durch die Decke.
Ich überprüfte meine Umsteigeliste erneut und sah, dass ich vor Brüssel dreimal umsteigen musste. Dreimal umsteigen? Gar nicht so schlimm, dachte ich erleichtert. Ich richtete mich ein, bereitete mich auf den Kampf mit meinem Koffer vor und sah mich im Waggon um. An der Decke hing ein Monitor, auf dem alle Haltestellen und deren voraussichtliche Ankunftszeiten angezeigt wurden. So etwas sieht man in Japan nicht, überlegte ich. Vielleicht haben die Deutschen einfach mehr Sinn für Details.
Fahrpläne sind eine Art Anregung
Aber bald bemerkte ich, dass jedes Mal, wenn der Zug anhielt, sich die Ankunftszeiten für die nächsten Stationen nach hinten verschoben. Ah, jetzt macht es Sinn! Georg hatte mich gewarnt, dass alle Fahrpläne eher eine Art „der Zug könnte um diese Zeit ankommen, wenn du Glück hast“ Vorschlag sind. Also mussten natürlich die Zeiten aktualisiert werden, wenn Verspätungen auftraten. Kein Wunder, diese Monitore sind nötig! Inzwischen trug der Monitor aber nur noch dazu beigetrag, meinen Puls und meinen Blutdruck in die Höhe zu treiben.
Ein Blick auf meine Umsteigeliste bestätigte das Schlimmste: Meine zweite Verbindung würde ich nicht schaffen. Mein Herz raste und in diesem Moment erschien der Schaffner, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Alles, was ich hatte, war ein handgeschriebenes Papierticket, auf dem so etwas wie „wegen Bauarbeiten gestrichen“ stand, gekritzelt auf mein eigentliches ICE-Ticket. Nervös händigte ich es aus, da ich nicht wusste, ob es akzeptiert werden würde. Der Schaffner lächelte und sagte: „OK“. Offensichtlich gehörte so etwas für ihn zur Routine!
In der Hoffnung auf eine gewisse Beruhigung fragte ich ihn: „Was ist, wenn ich meinen nächsten Anschluss verpasse? Wird der nächste Zug bald kommen? (Ich frage das, weil ich der DB-App nicht mehr traue, aber das habe ich nicht gesagt.)“ Er lächelte wieder und sagte: „Keine Sorge, Sie werden es schaffen. Dieser Zug hat auch Verspätung.“ Was für eine surreale Antwort! Während ich wie erstarrt dasaß, bemerkte ich auf dem Sitz schräg vor mir eine britische (wie es sich anhört) Dame und einen jungen Mann. Sie blätterten in einem DIN-A4-Blatt auf dem Tisch, schauten hektisch auf ihre Smartphones und sagten: „Wir werden es nicht schaffen! Gibt es einen anderen Zug?“
In diesem Moment meldeten sich die drei Damen vor mir in stark akzentuiertem Englisch zu Wort: „Sind Sie auch Opfer?“ Ich hob meine Hand und sagte: „Noch ein Opfer hier!“ Endlich hatte ich meine Leidensgefährten gefunden. Die Britin und ihr Begleiter waren nach einer Geschäftsreise in Köln auf dem Heimweg nach Brüssel. Eine der drei Damen vor mir war eine Belgierin, die mit dem Zug nach Brüssel zurückkehrte, nachdem sie auf ihr verspätetes Flugzeug verzichtet hatte, und die beiden anderen waren Deutsche. Wir sechs bildeten eine Art Club der gestrandeten Passagiere, Handys und Fahrpläne in der Hand, und murmelten Dinge wie: „Der Schaffner hat gesagt, wir würden den nächsten Zug erwischen, aber dieser wird von Sekunde zu Sekunde später!“ Wir scrollten durch Apps und suchten verzweifelt nach späteren Verbindungen, vereint in unserem gemeinsamen Unglück.
Der Schaffner, der mich mit falschen Informationen versorgt hat? Er ist längst ausgestiegen, offensichtlich fertig mit seiner Schicht.
Kölner Regel 2: Sich um die Zukunft zu sorgen ist sinnlos; was auch immer passieren wird, wird passieren. Und wir verpassten den Anschluss. Wir stiegen alle aus und beschlossen, auf den nächsten Zug zu warten. Die britische Dame ermutigte die Gruppe fröhlich: „Lasst uns positiv bleiben! Solange wir im Zug sind, kommen wir auch ans Ziel!“ Aber nur falls der Zug überhaupt jemals kommt.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir gewartet haben, aber nach einiger Zeit kam endlich der nächste Zug und wir stiegen ein. Mein Koffer fühlte sich an, als würde er von Minute zu Minute schwerer. Aber ich konnte mich nicht einfach von seinem Inhalt trennen. Ich wollte auf jeden Fall alles mit nach Paris nehmen!
Der Zug hat seine Meinung geändert
Nach der A4-Liste hätte es etwa eine Stunde und 20 Minuten gedauert, um nach Lüttich zu gelangen, wo der nächste Umstieg anstand. Nun bemerkte ich, dass ich noch nichts zu Mittag gegessen hatte, und so aß ich die Snacks, die Angela mir freundlicherweise eingepackt hatte. Dann plötzlich ertönte eine Durchsage über die Lautsprecheranlage. Ich verstand kein Wort der deutschen Ansage, aber dann übersetzte die Brüsseler Gruppe: „Der Zug hat seine Meinung geändert. Er fährt nicht mehr bis Lüttich, sondern hält schon am nächsten Bahnhof! Machen Sie sich bereit zum Aussteigen!“ Moment, was?! Was soll das heißen, der Zug hat es sich anders überlegt? Was für eine Falle ist das denn??? Auch hier gilt die Kölner Regel 1: Es gibt Dinge, die sich unserer Kontrolle entziehen; wenn das passiert, müssen wir es akzeptieren.
Der belgischen App zufolge schien es schneller zu sein, den nächsten Zug nach Maastricht zu nehmen und dort umzusteigen, als hier (wo auch immer) auf den über Aachen nach Lüttich fahrenden Zug zu warten. Also beschlossen wir alle, in den Zug nach Maastricht umzusteigen. Moment mal – wo ist Maastricht überhaupt? Moment, die Niederlande!? Ich wollte nach Belgien, also warum in aller Welt musste ich in die Niederlande fahren? Aber als ich nachschaute, stellte ich fest, dass Maastricht von begischem Territorium umgeben ist. Gut, gut, ich werde tun, was sie sagen. Müde, aber entschlossen stiegen wir alle in den Zug nach Maastricht und fuhren auf niederländisches Gebiet.
Im Bahnhof Maastricht gingen wir alle zum Fahrkartenschalter, um unseren Anschluss an den Zug nach Lüttich zu überprüfen. Zu diesem Zeitpunkt war unsere kleine Gruppe auf dem Weg nach Brüssel auf vier eifrige Seelen geschrumpft. Es stellte sich jedoch heraus, dass fast zwanzig Opfer der eigenmächtigen Stornierung des ICE 314 den Weg zum Schalter im Bahnhof Maastricht gefunden hatten. Die meisten von ihnen waren ausländische Touristen. Unter ihnen befanden sich einige junge Reisende aus Südamerika. Sie waren völlig verwirrt von der plötzlichen Annullierung des ICE und sie versuchten, sich einen Reim darauf zu machen, wie sie hierher gekommen waren. Für sie war ein Zug, der auf halber Strecke abrupt stehen bleibt, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und für mich auch. Diejenigen, die an das Chaos in ihren Heimatländern gewöhnt sind, konnten nicht anders, als über die Absurdität eines solchen Durcheinanders in Europa und insbesondere in Deutschland zu lachen!
Mit mehr als dreißig Minuten bis zum Zug nach Lüttich schlurften wir vier in den Warteraum, um uns ein wenig zu erholen. Wir verschlangen unsere Snacks, als wäre es die wichtigste Mahlzeit des Tages. Willkommen zum kurzen Nachmittagstee! Die beiden aus Brüssel erzählten, dass sie ursprünglich geplant hatten, von ihrer Geschäftsreise nach Köln mit dem Firmenwagen zurückzufahren. Aber ihre deutschen Kollegen hatten darauf bestanden: „Mit dem Zug ist es viel einfacher. Die Bahn ist immer so einfach!“ Dies löste ein trockenes Gelächter aus, und die britische Dame witzelte: „Jetzt können wir nur noch atmen!“ Nachdem ich meinen müden Körper und meine schweren Taschen den ganzen Nachmittag herumgeschleppt hatte, löste dieser Satz bei mir einen Lachanfall aus. Diese Dame war einfach zum Totlachen!
Als wir ins Gespräch kamen, erfuhr ich, dass ihr Hobby der Rennradsport ist, und ich konnte nicht widerstehen, sie zu fragen: „Haben Sie jemals die Tour de France gesehen?“ Sie antwortete sofort: „Mein Vater trug dort das gelbe Trikot!“ Was für eine Offenbarung!
„Und er starb am Tag nach seinem Sieg!“ Mich traf ein weiterer Aha-Effekt! Ich erinnerte mich an die Jubiläums-Übertragungen, in denen in der Tat von einigen schweren Unfällen die Rede war, und mir war bewusst, dass es Todesopfer gegeben hatte. „Geschah dieser Unfall bei einer Abfahrt?“ fragte ich. „Nein, aufwärts.“ Für die Eingeweihten war schon klar. Während der Tour de France 1967, kurz vor dem Gipfel des berüchtigten Mont Ventoux, hatte ihr Vater seinen letzten Atemzug getan. Sein Name, Tom Simpson, ist auf dem Denkmal auf dem Gipfel eingraviert, was es zu einem heiligen Ort für Tour-Fans macht.[Wikipedia] Damals war sie erst drei Jahre alt, so dass sie keine dunklen Erinnerungen an diesen Tag hat. Es scheint, dass sie selbst gerne Rad fährt. Diese von ihrem Vater geerbte Leidenschaft ist vielleicht der Grund für ihr optimistisches Wesen.
Zurück von echten Katastrophen zu alltäglichen Problemen
Endlich war es an der Zeit, den Zug nach Lüttich zu besteigen. Als wir jedoch am vorgesehenen Bahnsteig ankamen, fanden wir zwei getrennte Züge an beiden Enden vor. Wir schleppten unser Gepäck zu einem glänzenden neuen Zug, auf dessen Anzeigetafel zu lesen war, dass er nach Lüttich fuhr. Doch ein älterer Mann, der auf einer Bank saß, sagte: „Dieser Zug fährt nirgendwohin“. Wir weisen ihn auf das Zielschild hin, aber er blieb stur. Da wir keine andere Wahl hatten, schleppten wir unsere Taschen zum anderen Ende des Bahnsteigs, wo ein alter, klappriger Zug abgestellt war. Auf halbem Weg zum Einsteigen rief jemand aus: „Kann dieser Zug überhaupt fahren?“ Der verwahrloste Zustand der Waggons machte uns nachdenklich und wir begannen, unser Gepäck zurück zum neueren Zug zu schleppen. Derselbe ältere Mann war immer noch da und behauptete: „Ich war vorhin in diesem Zug, und ich habe gehört, dass er nicht fährt.“ Noch einmal stapfen wir mit unseren Taschen zurück. Oh, was für ein Chaos! Wie können zwei verschiedene Züge an entgegengesetzten Enden desselben Bahnsteigs stehen? Das ist nicht sehr hilfreich! Warum haben die europäischen Züge überhaupt Stufen? Jedes Mal, wenn wir einsteigen, müssen wir unsere Koffer hochheben, was sich wie eine Folter anfühlt. Und warum in aller Welt war das Wetter so schön? Jede Kleinigkeit begann mich zu ärgern. Aber so ist das nun mal, wenn man in einem anderen Land ist. Köln liegt nun weit zurück, aber trotzdem gilt die Kölner Regel 1: Es gibt Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben; wenn das passiert, müssen wir es akzeptieren. Es stimmt, sich aufzuregen, ändert nichts. Das Einzige, was es bewirkt, ist, dass Herzschlag und Blutdruck ansteigen und ich mich noch erschöpfter und schlechter fühle. Ich beschloss, mich nur noch auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Oder könnte diese Bestrafung das Training sein, um Erleuchtung zu erlangen!
Wie der alte Mann prophezeit hatte, setzte sich der klapprige Zug endlich in Bewegung. Danke, weiser alter Mann! Zu diesem Zeitpunkt muss es etwa 17:30 Uhr gewesen sein. Wir hatten unseren ersten Zug gegen 14 Uhr bestiegen, also vor nur dreieinhalb Stunden. Aber es fühlte sich an, als wäre ich schon seit Monaten in Zügen unterwegs gewesen. Es war jetzt ein sonniger Nachmittag – zu sonnig, um im Zug zu sitzen. Zum ersten Mal seit Stunden fühlte ich mich einigermaßen ruhig. Und dann meldete sich ein natürliches Bedürfnis.
Eine meiner Reisebegleiterinnen bot mir freundlicherweise an: „Ich passe auf dein Gepäck auf. Geh ruhig aufs Klo.“ Dankbar nahm ich ihr Angebot an. Aber musste ich ausgerechnet in diesem klapprigen alten Zug auf die Toilette gehen? Wie ich befürchtet hatte, war die Situation auf der Toilette genauso schlimm, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Da wir aber gerade den Startbahnhof verlassen hatten, war es aber noch relativ sauber. Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Schließlich sind die Toiletten zu Hause in Japan einfach viel zu gut. Wir sind ein Volk mit einer fast zwanghaften Vorliebe für unsere Toiletten. Wenn man wollte könnte man praktisch in einer öffentlichen Toilette leben! Wir sind in unserem japanischen Alltag zu verwöhnt. Aber diese Reise ist wirklich eine Art Training! Daran habe ich keinen Zweifel. Ich fand mich mit der Realität ab, blickte nach vorne und stelle fest, dass es Toilettenpapier und ein Waschbecken gibt, um mir die Hände zu waschen. Was könnte man sich mehr wünschen? Mit den Kölner Regeln ist die Erleuchtung zum Greifen nah.
Glücklich über die richtige Entscheidung
Als ich vom Klo zurückkam, blickte die Belgierin von ihrem Smartphone auf und sagte: „Der Flug, den ich nehmen wollte, hatte Verspätung, also entschied ich mich für den Zug. Nun aber hat sich herausgestellt, dass dieser Flug ganz gestrichen wurde.“ „Dann habe ich wohl doch die richtige Entscheidung getroffen!“ Wir konnten daraufhin nur lachen. Die richtige Entscheidung, in der Tat.
Solange man im Zug sitzt, wird er auch ans Ziel kommen. Dank der DB wurde diese Binsenweisheit zerstört, so dass wir bis zum Schluss in höchster Alarmbereitschaft blieben. Aber zum Glück erreichte der Zug zwischen den Niederlanden und Belgien tatsächlich sein Ziel. Puh!
Und was für ein Anblick begrüßte uns am Bahnhof von Lüttich! Das futuristische und beeindruckende Bauwerk wurde vom spanischen Architekten Santiago Calatrava entworfen. Wären wir wie geplant mit dem ICE direkt nach Brüssel gefahren, hätten wir diesen schönen Bahnhof nie gesehen. Somit bekam das Chaos dieses Nachmittags einen Sinn. Als der ICE endlich Brüssel erreichte, brachen wir alle in Applaus aus und klatschten uns gegenseitig ab. In diesem Moment triumphierten wir so, als hätten wir gerade das gelbe Trikot der Tour de France gewonnen.
Nacheinander stieg unsere vierköpfige Gruppe an ihren jeweiligen Bahnhöfen in Brüssel aus. Am Bahnhof MIDI winkte ich den beiden anderen zum Abschied zu. Was für wunderbare Reisebegleiter – sie hatten die Reise erträglich und irgendwie auch lustig gemacht! Danke! Nach einem kurzen Moment der Entbehrung und einem freundlichen Wortwechsel trennten sich unsere Wege, ohne dass wir uns vorgestellt hätten, und wir kehrten fröhlich in unseren jeweiligen Alltag zurück. Auch das muss die kölsche oder vielleicht europäische Art sein, wie ich von Angela und Georg am Vortag erfahren hatte. (siehe Artikel 11: Drinkste ene met?)
Nun musste ich mir einen Platz im Eurostar sichern. Es war Freitagabend, und Brüssel MIDI war voll. Ich machte mich auf den Weg zum Eurostar-Bahnsteig und fuhr mit der Rolltreppe nach oben. Mein Ticket galt für die erste Klasse, aber mein reservierter Zug war ohne meine Schuld schon vor fast vier Stunden abgefahren! So musste ich mit dem Schaffner verhandeln, um an Bord zu kommen. Am Eingang zum Erste Klasse Wagen 15 gab es einen Fahrkartenkontrolleur. Als ich erklärte, dass ich meinen reservierten Zug wegen der Bauarbeiten der DB verpasst hatte, sagte er: „Sprechen Sie mit dem Schaffner in Wagen 11.“ Ab ging es mit Koffer, Umhängetasche und Rucksack, die gefühlt jede Minute an Gewicht zunahmen. Hatte ich versehentlich einen Meteoriten eingepackt?
Es waren nur noch drei Minuten bis zur Abfahrt. Ich musste warten weil einige Fahrgäste mit dem Schaffner verhandelten. Als ich endlich an der Reihe war, erklärte ich meine Situation. Der Schaffner antwortete mit einem forschen „Das ist in Ordnung, steigen Sie ein!“ und zeigte auf den Eingang der zweiten Klasse vor uns. „Aber ich habe eine Fahrkarte für die erste Klasse!“ protestierte ich. „Das ist in Ordnung, der Zug muss fahren“, beharrte der Schaffner. Für mich war das alles andere als in Ordnung, aber da der Zug sonst ohne mich abfuhr, hatte ich keine andere Wahl, als einzusteigen. Der Gedanke, auf den nächsten Eurostar zu warten, war unerträglich, zumal meine innere Uhr bereits 2 Uhr morgens überschritten hatte.
Kampf gegen das Gewicht der Welt
Als ich in den Zug einstieg, stellte ich schnell fest, dass der Bereich in der Nähe des Eingangs bis zum Rand mit Fahrgästen gefüllt war. Mutig benutzte ich meinen Koffer als Schutzschild, um mich weiter hineinzudrängen, nur um einen Berg von Koffern zu entdecken, der sich im Übergang zwischen zwei Wagen auftürmte. Allein der Gedanke, die nächsten anderthalb Stunden inmitten dieses Koffermeeres zu stehen, reichte aus, um mich ohnmächtig zu machen……
Zu Hause in Japan würden die meisten Leute ihre schweren Taschen einfach dem Lieferservice übergeben und mit leichtem Gepäck reisen. Aber hier war ich, umgeben von all diesen Leuten, die selbst ihre schweren Taschen schleppten, als ob sie auf einer Expedition zum Nordpol wären (und ja, ich war einer von ihnen)… Meine Bedenken waren aber völlig unnötig (offensichtlich hatte ich noch einen weiten Weg zur Erleuchtung vor mir), denn als ich mich gegen das Gewicht der Welt stemmte, tauchte der Schaffner nach seinem mysteriösen Verschwinden wieder auf. Er verkündete fröhlich: „Ich habe einen freien Platz gefunden. Sie können in Wagen 15 auf diesen Platz umsteigen.“ Ah, welch ein himmlischer Segen! Aber genauso schnell stellte ich mir den vor mir liegenden Kampf vor – durch den überfüllten Wagen 11 zu Wagen 15 zu navigieren. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir übel. Aber ich hielt durch.
Als ich endlich in der ersten Klasse ankam, war der Gepäckraum glücklicherweise leer – wie eine lebendig gewordene Fata Morgana! Triumphierend hievte ich meinen Koffer in die Ablage und suchte nach der Sitznummer, die der Schaffner genannt hatte. Der Wagen war fast voll, aber siehe da, der mir zugewiesene Platz war tatsächlich leer! Ein weiterer Seufzer der Erleichterung entrang sich mir, als ich mich buchstäblich in meinen Sitz fallen ließ.
Ich schrieb meiner in Paris wartenden Nichte eine SMS: „Ich werde gegen 9:30 Uhr ankommen, also geht ruhig ohne mich essen. Ich habe den ganzen Nachmittag über kaum etwas gegessen. Ich habe mir von Angela etwas zu essen einpacken lassen, aber ich wäre dir dankbar, wenn du etwas für mich mitnehmen könntest!“
Kurz vor 21 Uhr fuhren wir in den Gare du Nord in Paris ein. Etwa 15 Minuten später kam ich mit dem Taxi in der Wohnung am Place des Vosges an. Aber als ich entdeckte, dass meine Nichte mir nur Bananen und Joghurt gekauft hatte, spürte ich, wie mein Körper jede Kraft verlor. Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich etwas Fleischiges wollte!
Trotz des anstrengenden halben Tages konnte ich in dieser Nacht wegen meines unstillbaren Hungers kaum schlafen, ganz zu schweigen vom anhaltenden Jetlag. Doch was als verzweifelte Zugfahrt begann, verwandelte sich in ein unerwartet reizvolles Abenteuer, das mit unvergesslichen Erinnerungen gefüllt war. In gewisser Weise war es eine Lektion in mentaler Widerstandsfähigkeit. Nun, die Kölner Regel 3 (Mit welchen Schwierigkeiten auch immer man konfrontiert wird, am Ende wird alles gut) war wahr. Und ich kann mir nur vorstellen, dass die großen Asketen der Omine Tausend-Tage-Wallfahrt nach ihren Prüfungen etwas Ähnliches empfunden haben. Obwohl meine halbtägige Reise nur ein kurzer Augenblick war, fühlte ich mich wie neu geboren, irgendwie toleranter und verständnisvoller gegenüber allem Lebendigen. Fühlt sich Erleuchtung so an?
Zurück in Japan
Bei meiner Rückkehr nach Hause wandte ich mich an den Lieferservice meines Vertrauens, der mir mit meinem in Paris aufgefüllten schweren Koffer half. Ich fühlte mich leicht wie eine Feder und machte mich auf den Weg zum Bahnhof Shinagawa, wo ich auf den Shinkansen wartete und darüber nachdachte, wie mein Koffer wohl am nächsten Morgen zu Hause ankommen würde. Was für ein fantastisch bequemer Service! Ich wollte mich vor all den engagierten Menschen hinter den Kulissen verneigen.
Doch als ich den Zug pünktlich einfahren sah, überkam mich ein zweischneidiges Gefühl. Stellen Sie sich das vor – ein riesiges Fahrzeug, vollgepackt mit Menschen, das jeden Tag pünktlich fährt. Ist das nicht ein bisschen beängstigend? Es scheint kaum menschlich möglich! Es stimmt zwar, dass nicht alles von Menschenhand gesteuert wird. Aber man kann nicht umhin, sich über all die armen Seelen zu wundern, die alles opfern und bis zum Umfallen arbeiten, damit dieser Zirkus am Laufen bleibt. Die japanische Kultur kennt keinerlei Toleranz für Misserfolge, auch wenn es manchmal vielleicht ganz gut wäre, die Dinge etwas schleifen zu lassen!
Menschen in anderen Teilen der Welt leben trotz ihrer fragwürdigen Infrastruktur mit einer fröhlichen Unverwüstlichkeit und finden clevere Wege, um zurechtzukommen. Nicht dass diese Infrastruktur ein völliger Scherbenhaufen wäre; es ist nur so, dass die Reparatur Vorrang vor der Bequemlichkeit der Fahrgäste hat. Schließlich würden die armen Fahrgäste noch mehr Unannehmlichkeiten erleiden, wenn die maroden Strukturen weiter abgenutzt würden. Man sollte der DB also nicht vorwerfen, dass sie den Reparaturen Vorrang einräumt.
Auf der anderen Seite haben wir es in Japan mit einem Land zu tun, in dem eine scheinbar makellose Infrastruktur von Menschen zusammengehalten wird, die sich für ihre Arbeit aufopfern. Der Mangel an Mitgefühl grenzt an Intoleranz. Selbst wenn ein Taifun aufzieht und der Betrieb vorsorglich eingestellt wird, sieht sich der Vorstandsvorsitzende gezwungen, eine Pressekonferenz abzuhalten, um sich bei der Nation zu entschuldigen. Müssen wir wirklich so weit gehen? Sollten wir nicht einfach dankbar sein für die Maßnahmen, die von den Dienstleistern getroffen wurden, um die schlimmsten Auswirkungen des Taifuns zu vermeiden? Züge sind ein Mittel, kein Zweck. In Japan ist man jedoch von Mitteln und Prozessen so besessen, dass der ursprüngliche Zweck oft vergessen wird.
Die Moral von der Geschicht
Wenn ich mich sowohl in die Nutzer als auch die Dienstleister hineinzuversetze, bin ich mir nicht sicher, in welchem Land die Menschen leichter leben können. Schließlich geht es nicht nur um die Infrastruktur. Die beste Lösung für beide Seiten: ein wenig Mitgefühl für die anderen.
Aber Moment mal, auch das hat Georg gesagt: „Jeder Jeck is anders“. Egal, wie viele Lösungen wir hier erörtern, ein Narr wird immer ein Narr bleiben – vielleicht gehören Fehler zur menschlichen Natur. Außerdem würde das Reisen seinen Reiz verlieren, wenn alles gleich wäre, egal wohin wir auf der Welt reisen. Einem anderen Land vorzuschreiben, was es zu tun oder zu lassen hat, ist unglaublich unhöflich und eine völlig unwillkommene Einmischung.
Auf jeden Fall hat mich diese Reise daran erinnert, wie wichtig es ist, unangenehme Situationen direkt anzugehen, statt jemand anderem die Schuld zu geben. Es ist entscheidend, sein Bestes zu geben, um einen Weg nach vorne zu finden. Schließlich wurde man allein geboren und wird auch allein sterben. Deshalb sollten wir, solange wir auf dieser Welt sind, unsere Zeit mit Humor verbringen und ein Lächeln mit den Menschen teilen, denen wir begegnen. In diesem Sinne werden die Kölner Regeln für den Rest meines Lebens in meinem Gedächtnis bleiben.
Permalink der englischen Originalversion: https://en.tellerrandstories.de/enlightenment-railway