Glamourös und ganz im Stil einer Late-Night-Queen schritt Anja Reschke letzten Donnerstag (13. März 2025) um kurz vor Mitternacht an ihren Studio-Schreibtisch. Wie gewohnt widmete sich ihre Sendung Reschke Fernsehen einem einzigen Thema. Die Präsentation der Recherche folgt einer packenden Dramaturgie: vom zunächst noch namenlosen reichsten Mann Deutschlands bis zum Brief von Adolf Maass, dem ehemaligen Anteilseigner des heute weltgrößten Logistikkonzerns, an seinen im Exil lebenden Sohn Gerhart. Gelesen von Michel Friedman. Schnell wurde klar: An diesem Abend geht es um das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte – um die Verflechtungen von Vermögen und NS-Geschichte. Es geht um das düstere Geheimnis hinter dem Reichtum von Klaus-Michael Kühne, dem Logistik-Milliardär und Ehrenvorsitzenden von Kühne + Nagel, und um die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit seines Unternehmens.

Anja Reschke lässt zwei Aktenbündel auf den Schreibtisch krachen: die Entnazifizierungsurteile der Brüder Kühne, Vater und Onkel von Klaus-Michael Kühne. Zwei Städte, zwei Urteile: Hamburg stufte die Brüder als Nutznießer im allgemeinen Sinne ein und verhängte eine Strafe von 2.000 Reichsmark. Bremen hingegen sah sie als aktive Profiteure und Förderer des nationalsozialistischen Rassenwahns.
Aktion M: der große Staatsauftrag
Kühne + Nagel erhielt lukrative Aufträge für den Transport von Auswanderer-Umzugsgut. Ein Nazi-Euphemismus, denn tatsächlich transportierten sie das Hab und Gut der enteigneten und ermordeten Juden aus Westeuropa. Kühne + Nagel wurden für ihre Arbeit mehrfach mit dem Gaudiplom ausgezeichnet, einem Ehrentitel für Musterbetriebe im Nationalsozialismus. In der Sendung erfährt man, dass das Bremer Urteil zu dem Schluss kommt: Ohne die Brüder Alfred und Werner Kühne wäre die NSDAP nicht so stark geworden. Bremen urteilt: Große Nazis und verhängt ein Berufsverbot. Doch dazu kam es nicht. Warum? Das erzählt Anja Reschke. Die umfassende Recherche ist in der ARD-Mediathek verfügbar.
Hier folgt nun die Überleitung zu einer weiteren beharrlichen Recherche zum selben Thema. Sie führte nach acht Jahren schließlich zur Errichtung eines Mahnmals. Es steht, man ahnt es schon, in Bremen und nicht in Hamburg.

Bremen erinnert: das Arisierungs-Mahnmal
Der Bremer Journalist und Kulturwissenschaftler Henning Bleyl war die treibende Kraft hinter der Recherche, die 2023 zur Errichtung des Arisierungs-Mahnmals in Bremen führte. Bleyl, ein ehemaliger Redakteur der taz, setzte sich seit 2015 intensiv mit der Rolle von Unternehmen wie Kühne + Nagel während der NS-Zeit auseinander. Er recherchierte die Verstrickungen des Logistikunternehmens in die M-Aktion und publizierte zahlreiche Artikel zu diesem Thema. Seine Arbeit trug dazu bei, die öffentliche Debatte über die wirtschaftliche Dimension des Holocausts und die Verantwortung von Profiteuren anzustoßen.
Ein Schacht gegen das Vergessen
Die Treppe zur Weserpromenade führt direkt auf eines von drei Fenstern, die den Blick in einen Schacht freigeben. Der Künstler Evin Oettingshausen greift mit seinem Entwurf die systematische Enteignung der jüdischen Bevölkerung während der NS-Zeit auf. Das Mahnmal besteht aus einem sechs Meter tiefen Schacht, der von der Promenade aus durch drei Fenster einsehbar ist. Der Blick in den Schacht symbolisiert die bis heute bestehenden Lücken in der Erinnerung und Geschichtsschreibung. An den Wänden des Schachts zeichnen sich schemenhafte Schattenrisse von Möbeln ab – ein Stuhl, ein Ohrensessel, ein Tisch, eine Kaffeekanne. Oettingshausen nennt sie „in Beton eingelassene Leerstellen“. Alltagsgegenstände, die das geraubte Eigentum und die zerstörten Leben verkörpern.

Und Klaus-Michael Kühne? Er verweigert seit Jahren eine umfassende öffentliche Aufarbeitung der Firmengeschichte. Zwar ließ er eine Studie zur NS-Vergangenheit des Unternehmens erstellen, doch blieb diese unveröffentlicht. Kühne verteidigt die Taten seines Vaters und Onkels im Zweiten Weltkrieg und betont, die Firmenarchive seien im Krieg zerstört worden. Das Arisierungs-Mahnmal an der Bremer Weserpromenade steht in Sichtweite des Firmensitzes von Kühne + Nagel. Den Bau des Mahnmals direkt vor dem Eingang des Firmensitzes verhinderte Kühne. Es wurde aus öffentlichen Geldern, privaten Spenden und vom Verein Bremer Spediteure finanziert, dem auch Kühne + Nagel angehört und somit indirekt und in unbekannter Höhe beteiligt war. In Hamburg fördert Klaus-Michael Kühne maßgeblich die Kultur. Seine Stiftung sponsert die Elbphilharmonie, und er plant, über 300 Millionen Euro in den Bau einer neuen, umstrittenen Oper zu stecken. Das Mahnmal in Bremen, von vielen getragen, kostete 500.000 Euro. So geht Erinnerungskultur.
In Bremen kann man hervorragend Seefahrerküche essen. Bremen nennt sich auch Kaffee-Stadt und hat mit dem Paula Modersohn-Becker-Museum, das erste Museum weltweit für eine Malerin. In Walbeobachtung erzählen wir, warum im Alten Rathaus das Bild eines Wals in Lebensgröße hängt. Bremen kann auch Erinnerungskultur: An der Weserpromenade erinnert seit 2023 das Arisierungs-Mahnmal an die systematische Enteignung der jüdischen Bevölkerung während der NS-Zeit und bei einer Stadtführung haben wir besondere Hingucker im Blick.
Die Recherche wurde von Bremen Tourismus unterstützt