Vor einem Jahrzehnt wurde die Fachwelt und das breite Publikum von dem beeindruckenden fotografischen Werk einer bis dahin unbekannten Künstlerin überrascht: Vivian Maier. Mit ihrer Kamera erzählte sie Alltagsgeschichten aus New York und Chicago, indem sie entscheidende und oft skurrile Momente auf der Straße festhielt. Ihre Fotos dokumentieren auf eindrucksvollste Weise das wahre Leben in den Vereinigten Staaten ab den 50er Jahren. Obwohl sie keine fotografische Ausbildung hatte und kein Interesse daran, ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten einem größeren Publikum zu präsentieren, hat ihr Werk posthum eine beispiellose Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Biografie als Film und Buch
Neben dem überraschenden Werk von Vivian Maier bot seine Entdeckung genügend Stoff für den 2013 oscarnominierten Dokumentarfilm Finding Vivian Maier. Der arbeitslose Immobilienmakler John Maloof stieß zufällig auf ein Juwel, als er eine Kiste mit Maiers Negativen ersteigerte und löste damit eine Lawine aus. Im Oktober 2009 fragte er als bis dahin fotografischer Laie im Hard Core Street Photography Forum von Flickr: „Ist diese Art von Arbeit einer Ausstellung oder eines Buches würdig? Oder kommen solche Werke oft vor?“
Die Suche nach Vivian Maier und die akribische Recherche ihrer Biografin Ann Marks haben zahlreiche Puzzlesteine der problematischen Lebensumstände Vivian Maiers ans Licht gebracht. Nach sechs Jahren intensiver Detektivarbeit ist das Buch Das Leben der Vivian Maier – Die Nanny mit der Kamera entstanden. Es ist fesselnd und am Ende sogar richtig spannend. Es lässt dem Leser dennoch genügend Raum für eigene Interpretationen.
Die Biografin widmet viel Zeit der Suche nach Vivian Maiers Familiengeschichte und ihrem persönlichen Umfeld. Außer zu einigen von ihr betreuten Kindern hatte Vivian Maier zu anderen Menschen kaum persönliche Bindungen. Jeder, der heute ihre teils distanzierten, aber oft auch ironischen Bilder sieht, möchte mehr über Vivian Maier und ihre Fähigkeit, solche Meisterwerke zu schaffen, erfahren. Zu Lebzeiten war es jedoch niemandem vergönnt, denn sie fotografierte nur für sich selbst und zeigte kein Interesse daran, die Wirkung ihrer Bilder zu erfahren.
Widersprüche und Zufälle
Vivian Maier war von der Fotografie besessen, hatte aber keine berufliche Ziele als Fotografin. Es ist lediglich eine Auftragsabeit bekannt, für die sie als Verkaufspreis $ 1.00 auf der Negativhülle notiert hat. Ihre Aufnahmen von Straßenszenen sammelte sie in Pappkartons und entwickelte die belichteten Filme am Ende nicht einmal mehr. Ihre Erwerbstätigkeit als Kindermädchen schien auskömmlich und ließ sich gut mit der Zeit vereinbaren, die ihr täglich für die Fotopirsch zur Verfügung stand, während die Kinder in der Schule waren. Gemeinsame Erkundungsspaziergänge mögen für manche Kinder spannend sein, die Realität der Kadaver auf einem Viehof waren dagegen nicht gerade kindgerecht. Am besten dokumentiert ist das gute Verhältnis zur Familie Gensburg, deren drei Söhne Vivian Maier von 1956 bis 1967 elf Jahre lang betreute. Über das Ausmaß von Vivians Straßenfotografie erfuhren die Gensburgs jedoch erst nach ihrem Tod durch John Maloof.
Gute Straßenfotografen kommentieren den Alltag ihrer Zeit durch Themenauswahl, Bildgestaltung und den richtigen Moment. Sie finden ihre persönliche Handschrift weniger durch eine fotofachliche Ausbildung, sondern durch die erlernte Fähigkeit, unauffällig zu sein und schnell entscheiden zu können. Typisch: Der schlafende Zeitungsverkäufer in seinem Kiosk eingerahmt von Comics und Nachrichten über Glamor und Terror. Bei Vivian Maier kam zu dieser Unauffälligkeit jedoch oft eine Dreistigkeit hinzu, mit der sie manche Menschen ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte fotografisch bloßstellen konnte.
Nachlass, Urheberrecht und Kuratierung
Juristische Fragen hätten fast verhindert, dass der Nachlass Vivian Maiers weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich ist. John Maloof, der Entdecker von Maiers Fotos, ist auf seine Art ähnlich besessen wie sie. Das was sie an Energie in die Arbeit mit der Kamera steckte, bringt er für die Erschließung und Kuratierung der Sammlung auf. Kontroversen um Bilder, die sonst niemand gerettet hatte, drohten kaum dass sich die Welt für Vivian Maier interessierte, alles zu sabotieren.
Die zweite Stärke des Buches von Ann Marks ist neben der Nachzeichnung Vivian Maiers Leben auch die faktenbasierte Dokumentation des Umgangs mit ihrem Nachlass. Sie selbst hat sich nicht mit all den Fragen belastet, um die nach ihrem Tod gestritten wurde. Immerhin kümmert sich jetzt eine Stiftung darum, dass Vivian Maiers Werk nicht mehr in Schachteln verkümmern muss. John Maloof hat der Universität Chicago 2017 eine Sammung von Vivian Maiers Kameraausrüstung und 500 Fotoabzügen vermacht. So kann abseits von völlig unangemessenen finanziellen Erwägungen erforscht werden, wie Vivian Maier ihre Aufnahmen wohl selbst ausgearbeitet sehen wollte.
Der persönliche Vivian Maier Moment in Chicago
Bei einem Chicago-Aufenthalt entdecken wir Vivian Maiers Bilder im Foyer des Raddisson Blu Aqua Hotels in Downtown Chicago. Schwarz-Weiß Fotos aus der boomenden Metropole der Nachkriegszeit. Ohne Personenkult und nur mit dem Slogan einer Neonschrift „… because every picture tells a story“ hängen die stummen Zeitzeugen an der Ziegelmauer der modernen Architektur. Nach allem, was ich inzwischen über diese außergewöhnliche Künstlerin erfahren habe, wäre sie vermutlich mit dieser zurückhaltenden Präsentation ihrer Werke einverstanden.
In Chicago gibt es über 400 Wolkenkratzer. Neben der Architektur über Tage, gibt es auch bemerkenswerte Konstruktionen unter der Erde. Der Chicago Riverwalk und der Chicago Pedway sind gleich zwei Attraktionen, die exklusiv für Fußgänger sind. Ein Zugang auf den Pedway führt direkt aus der Lobby des Radisson Blu Aqua. In Chicago muss auch niemand in Fast-Food-Ketten essen. Drei Foodtipps, die Essen mit Kultur und Geschichte verbinden. Von fiktiven Sandwichbuden bis zur Queen of Chicago.