Manche Persönlichkeiten der Geschichte begegnen einem immer wieder auf Reisen. So ging es mir zuerst mit dem Apostel Paulus. Ich traf ihn auf Malta und Zypern, in Ephesus und Rom. Später erlebte ich Ähnliches mit Thomas Mann – lange vor dem Jubiläumsjahr 2024, das 100 Jahre Zauberberg feierte, und seinem 150. Geburtstag im Juni 2025. Ich stieß auf ihn in Worpswede und auf Usedom, in München, Stockholm, Sils Maria und Chicago. Der Nobelpreisträger und einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts beeinflusste schon zu Lebzeiten so stark, dass man überall, wo er sich aufhielt – ob auf Erholungsreise, Stippvisite, Krankenbesuch, Schreibaufenthalt oder im Exil –, seine Spuren sammelte, erforschte und bewahrte.

Thomas Mann Daily – ein frischer Blick auf Hochkultur
Wann, wenn nicht im Jubiläumsjahr zum 150. Geburtstag des Chronisten seiner Zeit, des Weltbürgers und Verteidigers der Demokratie, bietet sich die Chance, das Bild des vermeintlich unnahbaren Intellektuellen zu erweitern? Weg mit der Erinnerung an ungeliebte Schullektüre und verschachtelte Sätze – her mit den überraschenden Facetten des Weltliteraten! Erste Anlaufstelle hierfür ist die zentrale Plattform Mann 2025. Die Internetseite bündelt weltweite Feierlichkeiten und kritische Reflexionen über das literarische und politische Erbe Thomas Manns. Dabei stößt man auf Entdeckungen wie Felix Lindners Buch Mit Thomas Mann durch das Jahr. Es zeichnet ein überraschend nahbares und oft amüsantes Porträt des Nobelpreisträgers. Während Thomas Mann als Inbegriff schriftstellerischer Disziplin gilt, erzählen seine Tagebücher eine andere Geschichte – eine von morgendlicher Trägheit, Magenproblemen und dem täglichen Ringen mit seinen selbst auferlegten Schreibquoten. Wem selbst dieses Buch mit 365 Tagebuchzitaten zu umfangreich erscheint, dem sei das Interview von Mirko Lux mit Felix Lindner empfohlen Nicht husten vor dem dem Zauberberg – wie ein Twitteraccount Thomas Mann neu entdeckt.

Qualvolle Arbeit am Schreibtisch – Gebratener Bückling zum Lunch
Dieses Zitat aus Thomas Manns Tagebüchern bezieht sich zwar nicht auf die Arbeit am Roman Zauberberg, doch aus seinen Notizen geht hervor, dass er das Schreiben als langwierig und schwierig empfand. Thomas Mann arbeitete rund zwölf Jahre daran. Er begann 1912, nachdem ihn die Eindrücke aus dem Davoser Sanatorium inspirierten, das er im selben Jahr beim Besuch seiner Frau Katia kennenlernte. Ursprünglich wollte er eine Novelle schreiben, doch das Projekt wuchs zu einem umfangreichen Roman über den er selbst sagte: „Kurzum, ich merkte früh, dass die Davoser Geschichte es in sich hatte und über sich selbst ganz anders dachte als ich.“ Wegen des Ersten Weltkriegs legte Mann zwischen 1915 und 1920 eine Pause ein. Erst 1920 nahm er die Arbeit wieder auf und vollendete das Werk 1924. Heute erinnern der Thomas-Mann-Weg, der Thomas Mann-Platz oberhalb des ehemaligen Sanatoriums Schatzalp sowie der Speisesaal und das erhaltene Krankenzimmer im ehemaligen Waldsanatorium, in dem Katia Mann wegen eines Lungenspitzenkatarrhs behandelt wurde, an den Nobelpreisträger und seine Inspirationsquellen.

Being Thomas Mann
1912 reist Thomas Mann für drei Wochen nach Davos. Seine Frau Katia lässt sich im Waldsanatorium behandeln, das unterhalb des großen Luxussanatoriums Schatzalp liegt. Thomas Mann selbst zieht ins Haus am Stein, das heute nicht mehr existiert. In einem Vorwort zum Zauberberg für die Studenten der Universität Princeton schreibt er:
… aber im Mai und Juni des Jahres besuchte ich meine Frau dort oben für einige Wochen, und wenn Sie das Kapitel am Anfang des »Zauberbergs« lesen, das »Ankunft« überschrieben ist, wo der Gast Hans Castorp mit seinem kranken Vetter Ziemßen im Restaurant des Sanatoriums zu Abend speist und nicht nur die ersten Kostproben der vorzüglichen Berghof-Küche, sondern auch von der Atmosphäre des Ortes und dem Leben »bei uns hier oben« empfängt, – wenn Sie dieses Kapitel lesen, so haben Sie eine ziemlich genaue Beschreibung unseres Wiedersehens in dieser Sphäre und meiner eigenen wunderlichen Eindrücke von damals.

Im selben Saal veranstaltet das Waldhotel Davos im Thomas-Mann-Jubiläumsjahr mehrere Events unter dem Titel „Being Thomas Mann“. Ein Vier-Gänge-Menü verbindet Literatur mit Virtual Reality. Schauspieler schlüpfen in Romanrollen, und per Virtual Reality erscheint Thomas Mann persönlich an den Tischen, um von seiner Zeit an diesem weltabgeschiedenen Ort zu erzählen.

Auf zur Schatzalp!
Wer dem Roman näher kommen möchte, sollte den Thomas-Mann-Weg erkunden – ein Wanderweg, den der Schriftsteller einst zur körperlichen Ertüchtigung nutzte. Der drei Kilometer lange Weg beginnt beim ehemaligen Waldsanatorium auf 1.620 Metern und führt hinauf zur Schatzalp auf 1.880 Metern. Zehn Tafeln am Wegesrand zitieren Passagen aus Der Zauberberg. Für die Eiligen geht es von Davos Platz mit der historischen Standseilbahn direkt zur Schatzalp. Im Jubiläumsjahr serviert das Panorama-Restaurant ein Thomas-Mann-Menü und bietet eine Selfie-Wand, die den Schriftsteller vor Ort zeigt.

Bei uns hier oben: Davos und der Zauberberg
Kaum ein Ort hält die Erinnerung an das Jahrhundert Thomas Manns so lebendig wie die Schatzalp in Davos. Das Luxus-Sanatorium, 1900 eröffnet, galt damals als Inbegriff der Moderne. Jugendstil trifft hier auf Stahlbeton, das Flachdach war revolutionär, Elektrizität selbstverständlich, und große Aufzüge transportierten sogar die Verstorbenen der Tuberkulose-Station.


Das entrückte Paralleluniversum aus dem Zauberberg lässt sich noch erahnen – bei einer Führung durch die Schatzalp. Auch Thomas Mann war hier. Er wanderte gern den heute nach ihm benannten Weg hinauf. Vielleicht trank er einen Kaffee im großen, mit Marmor verkleideten Speisesaal oder beobachtete die Patienten, die auf ihren Liegen Sonne tankten. Dann zog es ihn weiter, hinauf zum heutigen Thomas-Mann-Platz, froh über die eigene Gesundheit, die ihm ausgedehnte Spaziergänge erlaubte.

Zwischen Liegekur und Speisesaal
Zwischen 1870 und 1950 galt die Liegekur als Kernstück der Tuberkulosebehandlung in Sanatorien wie der Schatzalp. Bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit und meist im Freien sollten Patienten stundenlang ruhig liegen. Man glaubte, die frische, kühle Bergluft stärke die Selbstheilungskräfte und beeinflusse den Krankheitsverlauf positiv.

Täglich verbrachten die Patienten sechs bis zehn Stunden auf „Davoser Liegestühlen“ – auf Balkonen, Terrassen oder in offenen Liegehallen. Während dieser Zeit herrschte absolute Stille; Gespräche und jede Aktivität waren verboten, um Körper und Seele vollständig zu entspannen. Ergänzend zur Liegekur erhielten die Patienten eine reichhaltige Ernährung mit bis zu sieben Mahlzeiten am Tag. Wer sich besser fühlte, durfte Spaziergänge unternehmen, die sogenannten Terrainkuren.
Die Zeit im Zauberberg
Thomas Mann macht die Zeit im Zauberberg zum zentralen Thema seines Romans. Für ihn ist es ein Zeitroman im doppelten Sinn: Er spiegelt die europäischen Vorkriegszeit wider, und beleuchtet zugleich die Zeit selbst – ihr Wesen, ihre Wahrnehmung, ihr Vergehen. Die Hauptfigur Hans Castorp, erlebt wie sich das Zeitgefühl wandelt: Die Tage gleichen sich, Zeiträume dehnen oder stauchen sich subjektiv, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen zu einer ausdehnungslosen Gegenwart – einem stehenden Jetzt, in dem das Erleben der Zeit fast aufgehoben scheint. Diese Erfahrung der Zeitlosigkeit wird als Parabel für eine gesellschaftliche und geistige Stagnation gedeutet, so Paulina Jeutter in ihrem Student Research Paper Zeitlichkeit in Thomas Manns Der Zauberberg.
Die Uhren in den Fluren der Schatzalp erzählen eine andere Geschichte. Sie stehen für den streng getakteten Alltag der Patienten mit festen Liege- und Essenszeiten. Angeblich gingen sie stets ein paar Minuten vor, damit die Patienten pünktlich zu Arztterminen, Mahlzeiten oder zur Abfahrt der Standseilbahn erschienen.
Jeden Freitag von Juni bis Oktober lädt Davos zu einem besonderen Kulturangebot ein: Auf den Spuren von Thomas Mann. Mit der Schatzalpbahn geht es hinauf zum ehemaligen Sanatorium. Von dort führt der Thomas-Mann-Weg, gesäumt von Texttafeln, hinunter zum Waldhotel, dem früheren Waldsanatorium. Bei Kaffee und Kuchen erfährt man dort mehr über die Entstehung des Romans und die Orte, die Thomas Mann inspirierten.
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Die Recherchereise wurde von MySwitzerland und Davos Klosters unterstützt