Es ist erst neun Uhr morgens, doch auf der Hauptbühne im Dorf jodelt schon die Band Eduwyss Meitleni. Plaffeien im Kanton Fribourg feiert den Alpabzug. Die Herden kommen Ende September wieder hinab ins Tal. Den ganzen Sommer über haben sie auf der Alp verbracht. Noch früher als die Musiker haben sich die Hirtenfamilien mit ihren Tieren auf den Weg gemacht. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Tälern, wie Lägerli, Ahornén, Blattisboden oder Riggisalp und erreichen nach stundenlangem Abstieg das Heimattal. In diesem Jahr sind es 19 Hirtenfamilien und ihre Herden, die zu festgelegten Ankunftszeitem im Viertelstundentakt die Dorfstraße von Plaffeien erreichen. Hinauf auf die Berge geht es nicht ganz so geordnet. Die Sömmerung beginnt je nach Witterung im Mai, und jede Bauernfamilie entscheidet individuell, wann ihre Herden auf die höheren Wiesen ziehen.
Die Sömmerung und der Klang der Berge
Seit Jahrhunderten schicken die Schweizer Bauern ihre Kühe, Ziegen, Schafe und Pferde in den wärmeren Monaten auf die Berge, damit sie dort grasen können. Die Sömmerung entstand im Mittelalter, um das kostbare Gras in den Tälern für das Wintervieh zu erhalten. Dieser alte Brauch hat die Landschaft in einen Flickenteppich aus Wäldern und Weiden verwandelt und ist so wichtig, dass der Erhalt dieser Kulturlandschaft in der Schweizer Verfassung festgeschrieben ist. Die Bergbauernhöfe erhalten staatliche Subventionen, um die Weideflächen frei zu halten. Durch die wärmeren Temperaturen wachsen heute sogar Bäume oberhalb der alten Baumgrenzen. Aus der Sömmerung entwickelten sich viele typisch schweizerische Traditionen, wie die Herstellung von Alpkäse in den Alphütten, Wanderwege durch duftende Alpwiesen und das Läuten der Kuhglocken. Der Klang der Glocken, der an den Bergwänden widerhallt, ist wie ein endloses Konzert und der unverwechselbare Sound der Schweizer Berge.
In den Alpengemeinden der Schweiz wird der Alpabzug am Ende des Sommers als Feier dieser jahrhundertealten Lebensweise zelebriert. Wenn es zurück ins Tal geht, tauschen die Hirtenfamilien die kleinen Glocken an ihren Kühen gegen riesige traditionelle Glocken aus, um das Ereignis anzukündigen. Die Kühe wissen, dass der Alpabzug bevorsteht, wenn sie die großen Glocken tragen und mit Blumen geschmückt sind. Innerhalb einer Herde gibt es eine klare Hierachie. Auf ihrem Weg ins Tal gehen die älteren Kühe angeführt von der Leitkuh voran, währende das jüngere Vieh ängstlicher ist und am Ende der Gruppe folgt. Die Kühe tragen schönen Blumenschmuck und die riesigen Glocken hängen an breiten Lederriemen um ihren Hals.
In Plaffeien haben sich mittlerweile viele Menschen entlang der Hauptstraße versammelt. Es herrscht Volksfeststimmung mit allem was dazu gehört. Im Märetgässli wird lokaler Käse verkauft. Fast alle Hirtenfamilien, die durch das Dorf ziehen, haben im Sommer Käse auf der Alp hergestellt. Neben den bekannten Käsesorten wie Vacherin Fribourgeois und Gruyère werden auch Halbhartkäse aus Rohmilch wie Mutschli, Jauntaler und Raclettekäse angeboten. Gegen zwei Uhr nachmittags zieht die letzte Hirtenfamilie durch die Straße. Die Sömmerung ist für dieses Jahr zu Ende, die Tiere sind zurück auf den Hof gekehrt. Familien und Helfer feiern die Heimkehr mit einem gemeinsamen Essen.
Das Ende der Sömmerung?
Im Dezember 2023 ist die Schweizer Tradition der Sömmerung von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Vereinten Nationen aufgenommen worden. Doch der Klimawandel bedroht diese Tradition. Wärmere Temperaturen, Gletscherschwund, weniger Schnee und eine frühere Schneeschmelze zwingen die Bauern in der ganzen Schweiz zur Anpassung. Im Jahr 2022 nahmen nur 10 Hirtenfamilien am Alpabzug in Plaffeien teil. Viele mussten bereits früher zurück auf ihren Hof. Die Alphütten haben oft kein Wasserreservoir. Das Wasser für die Tiere und die tägliche Reinigung der Käserei wurde immer aus den natürlichen Bachläufen der Umgebung entnommen.
Der Wassermangel war so akut, dass die Schweizer Armee mit Expresslieferungen helfen musste. Die Schweiz galt lange Zeit als Europas Wasserturm, wo sich der Winterschnee ansammelte und in den wärmeren Monaten sanft schmolz, um dosiert erst kleine Bäche und dann die größeren Flüsse mit Wasser zu speisen. Heute geht den Hirtenfamilien auf den Alp immer häufiger das Wasser aus. Die Schweizer Regierung versucht, den Veränderungen entgegenzuwirken und die Alpentraditionen zu bewahren. Es wurden große Infrastrukturprojekte wie der Bau von Wasserreservoirs angestoßen, um Wasser für die Weidetiere in den Sommermonaten auf die Berggipfel zu bringen.
Schafscheid in Jaun
In Jaun, ebenfalls im Kanton Freiburg, wird seit über 400 Jahren das Ende der Schafsömmerung mit dem Schafscheid gefeiert. Es handelt sich um einen Herbstmarkt mit vielen Ständen, der jedes Jahr am Montag nach dem Eidgenössischen Bettag stattfindet. An diesem verregneten Montag werden mehr als 450 Schafe ins Dorf getrieben. Auf der schmalen Hauptstraße wurden provisorische Gatter aufgestellt. Der Schafscheid ist auch ein Tag des Wiedersehens. Hirten treffen ihre Freunde und Familie, ein weißer Hütehund sieht nach dem langen Sommer auf der Alp sein Frauchen wieder und legt ihr die große Pfote auf den Arm und die Bauern nehmen ihr Vieh in Empfang. Zum Schafscheid gehört auch, dass hier entschieden wird, welche Tiere zum Schlachter gehen und welche zur weiteren Mästung in den heimischen Stall. Dazu findet nahe der Gatter, in denen die Schafe nun dichtgedrängt stehen, eine Auktion statt.
Einzelne Tiere werden aus dem Gatter geholt. Der Auktionator und die Kaufinteressenten stehen dabei. Die Tiere werden gewogen. Ein Schaf wiegt zwischen 45 bis 50 Kilogramm. Es gibt auch ältere Mutterschafe, die 120 Kilo auf die Waage bringen. Ein Käufer prüft mit geschultem Griff in den Nacken den Fettanteil. Der Auktionator murmelt auf Französisch einige Zahlen. Kommt es zum Deal, markiert der Käufer sein Tier mit einem farbigen Strich auf dem Rücken. An diesem Tag werden 90 Tiere gewogen und verkauft. Nachdem die Geschäfte erledigt sind, zieht es alle in die umliegenden Restaurants und an die Marktstände. Es gibt reichlich zu essen, darunter auch ein Schafscheidmenü. Es beinhaltet, wie könnte es anders sein, allerlei vom Lamm.
Traditionen für die Bucketlist
Die traditionelle Wanderweideschaft, auch als Transhumanz bekannt, ist in den gesamten Alpen, einschließlich Österreich, Italien und Deutschland, verbreitet. Wer im September oder Oktober in die Alpenregion reisen möchte, für den lohnt ein Blick in die traditionellen Festtermine. Die wichtigsten Alpabzüge im Kanton Freiburg finden in Semsales, Charmey, Schwarzsee, Albeuve, Plaffeien und Jaun statt. Mit etwas Glück sind auch die bärtigen Männer von Gruyère dabei und stimmen die Freiburger Hymne Liyoba an. Diese Männer versprühen Tradition pur, vom weißen Rauschebart bis zum kleinen Salztöpfchen, das an ihren wertvollen Ledertaschen, den Loyi hängt. Der Kanton Freiburg ist auch in kulinarischer HInsicht besonders attraktiv, denn hier feiert man am zweiten Wochenende im September sowie am zweiten Sonntag im Oktober das Bénichon-Fest oder Kilbi auf Deutsch. Es ist ein köstliches Fest, bei dem ein Bénichon-Menü mit sieben üppigen Gängen viele traditionelle Produkte der Region Fribourg vereint. Früher ein reines Familienfest, wird das Kilbi-Menü heute auch in vielen Restaurants angeboten.
Die Recherche wurde von Fribourg Tourismus unterstützt