Parlamente unter freiem Himmel

Die Demokratie steht unter Druck. Autokratische Regierungen gewinnen weltweit an Zustimmung. Die Demokratie, wie wir sie heute wertschätzen, mit Gewaltenteilung, freien Wahlen und individuellen Rechten im Grundgesetz, ist historisch gesehen erst einen Wimpernschlag alt. Das Parlament ist das Herz einer lebendigen Demokratie. Schon im Wort Parlament steckt das Reden (franz. parler), und ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Reden bringt Gesellschaften voran. Über Parlamente unter freiem Himmel in Island, Schweden, Deutschland und Georgien.

In Þingvellir - wörtlich „Versammlungsebene“ - wurde um 930 die Isländische Generalversammlung der Alþing gegründet, die dort bis 1798 tagte. / © Foto: Georg Berg
In Þingvellir wurde um 930 die Isländische Generalversammlung der Alþing gegründet / © Foto: Georg Berg

Þingvellir in Island – Reden an der Spaltungszone

In Þingvellir, was „Versammlungsebene“ bedeutet, gründete man um das Jahr 930 die isländische Generalversammlung Alþing. Seit der Besiedlung durch norwegische Wikinger ist die Ebene am heutigen Golden Circle ein bedeutender Ort für die Isländer. Die Schlucht war Schauplatz für eines der ältesten Parlamente der Welt. Die riesige Spaltungszone diente als Versammlungsort für 39 Häuptlinge und ihr Gefolge. Der Grund war praktischer Natur: Die Felswände entlang der tektonischen Plattengrenzen verstärkten die Stimme des Redners. Absolut bemerkenswert für die damalige Zeit und in Anbetracht der Wikinger-Verwandschaft aus Norwegen: Alle Häuptlinge hatten die gleiche Macht. Ein Chief konnte sich nicht durch Gewalt, sondern durch persönliche Ausstrahlung hervortun. Dabei zählte rhetorisches Geschick und eine kräftige Stimme. Um sich im Parlament zu behaupten, musste man ein großer Redner sein. Auf dem Alþing zählte allein das gesprochene Wort. Schriftliche Aufzeichnungen gab es nicht. Gesetze wurden mündlich überliefert. Damit sie nicht nur gehört, sondern auch erinnert wurden, gab es das Amt des Law Speakers. Seine Amtszeit dauerte drei Jahre, und jedes Jahr sprach er rund ein Drittel der Gesetze laut und aus dem Gedächtnis. Der Law Speaker stand auf dem Gesetzesstein und schmetterte die Gesellschaftsregeln mit lauter Stimme gegen die Wände der dramatischen Felsverwerfungen. In diesen zwei Wochen im Juni führte man auf dem Alþing auch Verhandlungen und vollstreckte Urteile.

Das Gebiet von Þingvellir ist Teil einer durch Island verlaufenden Spaltungszone, die an den tektonischen Plattengrenzen des Mittelatlantischen Rückens liegt. Die Verwerfungen und Klüfte in diesem Gebiet verdeutlichen die Zerrüttung der Erdkruste. Ein guter Platz für ein Erinnerungsfoto zwischen Europa und Amerika / © Foto: Georg Berg
Das Gebiet von Þingvellir ist wegen der tektonischen Plattengrenzen ein guter Platz für ein Erinnerungsfoto zwischen Europa und Amerika. Im Besucherzentrum und auf Schautafeln wird auch über die historische Bedeutung als Parlamentsplatz informiert / © Foto: Georg Berg

Wo das Gesetz König ist

Im Jahr 1798 löste der dänische König das Althing auf. Jahrhunderte lang bestand dieses nach der griechischen und römischen Antike älteste Parlament. Die Regelung der Volksangelegenheiten durch eine Generalversammlung der Häuptlinge löste viele Konflikte gewaltfrei. Im Jahr 1000 beschlossen die Isländer in Þingvellir die Annahme des Christentums ohne Blutvergießen. An diesem historischen Ort riefen sie am 17. Juni 1944 die Republik Island aus und feierten 1994 deren fünfzigjähriges Bestehen. Adam von Bremen, Geistlicher und Chronist des mächtigen Erzbischofs von Bremen im 11. Jahrhundert, war eine Art Auslandskorrespondent mit Schwerpunkt Skandinavien. Er reiste zwischen 1066 und 1069 einmal nach Dänemark, baute aber ein umfangreiches Netzwerk an Informanten auf und notierte in seiner Chronik: „Die Isländer haben keinen König, nur das Gesetz.“

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Gedenkstein mit Aufschrift Guly Thing und Wappen / © Foto: Georg Berg
Gedenkstein mit Aufschrift Guly Thing und Wappen / © Foto: Georg Berg

Guly Thing bei Kappeln an der Schlei

Auf einer sanften Anhöhe liegt Guly Thing, ein bedeutender Kult- und Versammlungsort in Schleswig-Holstein. Archäologische Funde zeigen seit den 1980er Jahren, dass die Region Angeln als Transitgebiet zwischen Ostsee und Nordsee wichtig war und früh besiedelt wurde. Heute gibt es bei Gülde die landeskundliche Erlebnisstätte Arltberg. Hier rekonstruierte man einen Runenstein und eine Dolmenkammer mit Schiffssetzung aus der Wikingerzeit sowie einen Steinkreis, der als Versammlungsort und zur Rechtsprechung diente. Anders als in der dramatischen Felsspalte am Althing in Island erkennt man den lieblichen Hügeln der Schlei-Region ihre einstige Bedeutung als Thing nicht unbedingt an. Wer den Weg hierhin findet, sollte auch wissen, dass die Bewohner dieser Region, die Angeln, um 450 n.Chr. vermutlich aufgrund einer Kältewelle auswanderten. Als Sammelvolk besiedelten und beherrschten die Angeln gemeinsam mit den Sachsen ab dem 5. Jahrhundert zunehmend Großbritannien. Um 950 n.Chr. gehörte die durch Abwanderung verödete Region zum Reich von König Harald Blauzahn. Sein Verhandlungsgeschick und seine rhetorische Fähigkeit, mehrere Fürstentümer zu einem Dänischen Königreich zu vereinen, machte ihn mehr als tausend Jahre später zum Namensgeber des Funkstandards Bluetooth, dessen Logo aus seinen Runeninitialen H und B zusammengesetzt ist.

Die Zeit der Wikinger und Dänen-Könige ist in der Schlei-Region lange vorbei. Geblieben ist die hübsche Landschaft und der fast mediterrane Flair an Orten wie Kappeln oder Arnis. Mit dem Fahrrad von Kappeln aus, erreicht man bequem die alte Kultstätte Guly Thing. Mehr über Kappeln an der Schlei.

Guly Thing, Steinkreis aus dem Bronzezeitalter 1700 bis 500 V. Chr. in der Region Angeln an der Schlei / © Foto: Georg Berg
Guly Thing, Steinkreis aus dem Bronzezeitalter 1700 bis 500 v. Chr. in der Region Angeln an der Schlei / © Foto: Georg Berg

Steinkreis bei Dartlo in Tuschetien

Das befestigte Dorf Dartlo in Tuschetien beeindruckt durch seine gut erhaltenen Wohn- und Verteidigungshäuser. Westlich der Kirche liegt ein halbkreisförmiger Platz mit 12 nebeneinander liegenden Steinen und 2 Steinen in der Mitte – es ist das mittelalterliche Gericht von Tuscheti. Hier saßen 12 Richter aus verschiedenen Dörfern, darunter ein Oberrichter, während der Angeklagte und der Kläger auf den gegenüberliegenden Steinen knieten. In Tuscheti verhängte man keine Todesstrafe; die härteste Strafe war die Verbannung aus dem Dorf oder der Region. Bemerkenswert ist, dass auch Frauen als Richterinnen tätig waren. Im 18. Jahrhundert war die Tochter eines Dorfältesten zehn Jahre lang die oberste Richterin der Region.

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Steinkreis, in dem früher Gericht gehalten wurde. Dieser so genannte Sabcheo ist ein traditioneller Gerichtsplatz in Tuschetien aus dem 16. und 17. Jahrhundert, an dem sich die Dorfältesten trafen und berieten. Einer der am besten erhaltenen Gerichtsplätze befindet sich in Dartlo / © Foto: Georg Berg
Steinkreis im Kaukasus. Der so genannte Sabcheo ist ein traditioneller Gerichtsplatz in Tuschetien aus dem 16. und 17. Jahrhundert / © Foto: Georg Berg

Gamla Uppsala – Kultort der Wikinger

Der Legende nach strömten während der Wikingerzeit alle neun Jahre Menschen aus ganz Skandinavien zum Tempel in Gamla Uppsala, um den nordischen Göttern ihre Opfer darzubringen. Man opferte von jeder Art neun männliche Wesen, darunter auch Menschen. Sie wurden, so heißt es, in einem Hain in Bäume gehängt und ihr Blut sollte die Götter versöhnen. Dies ist ebenfalls nachzulesen in der Chronik von Adam von Bremen. Er schrieb, dass die Menschen im Norden einen berühmten Tempel haben, der Uppsala hieße und ganz mit Gold verziert sei.

Hügelgräber in Gamla Uppsala. Die Königsgrabhügel eingebettet in grüne Wiesen sind ein bedeutender heidnischer Kultplatz und das Zentrum des im 11. Jahrhundert niedergegangenen Königreichs Svea / © Foto: Georg Berg
Hügelgräber in Gamla Uppsala. Die Königsgrabhügel eingebettet in grüne Wiesen sind ein bedeutender heidnischer Kultplatz und das Zentrum des im 11. Jahrhundert untergegangenen Königreichs Svea / © Foto: Georg Berg

Im Jahr 1164 wurde dieses sagenumwobene Uppsala im Zuge der Christianisierung zum ersten Erzbistum Schwedens. Spuren des angeblich goldenen Tempels finden sich heute nicht mehr, aber die großen Königsgräber sind weiterhin sichtbar. Gamla Uppsala zieht seit mehr als 1.500 Jahren die Menschen in seinen Bann. Auch König Gustav Vasa nutzte mehrfach die Symbolkraft von Uppsala und nutze den Parlamentshügel zur Ankündigung unbeliebter Steuern. 1989 besuchte Papst Johannes Paul II Gamla Uppsala und hielt eine Messe auf einer Wiese bei den Grabhügeln. Sein Altar war ein großer Stein.

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Die Pfarrkirche in Alt-Uppsala steht auf den Grundmauern des ersten Bischofsitzes von Skandinavien und in unmittelbarer Nähe der Königshügelgräber und eines Volksthing, einer frühen Form von Parlament. In der Kirche befindet sich das Grab des schwedischern Astronomen, Mathematikers und Physikers Anders Celsius / © Foto: Georg Berg
Die Pfarrkirche in Alt-Uppsala steht auf den Grundmauern des ersten Bischofsitzes von Skandinavien und in unmittelbarer Nähe der Königshügelgräber und eines Volksthing, einer frühen Form von Parlament / © Foto: Georg Berg
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