Mia Hesse war mehr als die erste Frau des Schriftstellers Hermann Hesse. Sie war auch die erste Berufsfotografin der Schweiz. Um 1900 führte sie in Basel ein selbstbestimmtes, modernes Leben. Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie den neun Jahre jüngeren, damals noch unbekannten Hermann Hesse. Einem Trend folgend zog das Paar von der Stadt aufs Land. Sie baute das Haus, er legte den Garten an. Das Mia-und-Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen auf der Halbinsel Höri wurde dank des Engagements von Eva Eberwein vor dem Abriss bewahrt und ist heute öffentlich zugänglich.

Das Haus auf der Höhe
Das Mia-und-Hermann-Hesse-Haus liegt auf der Halbinsel Höri am westlichen Ufer des Bodensees, nur zehn Autokilometer von Radolfzell entfernt. Es steht auf einer Anhöhe westlich des Dorfzentrums, verborgen im Grün des großen Gartens. Von dort blickt man noch immer hinunter zum See. Inzwischen stehen viele Häuser am Hang, der Hermann-Hesse-Weg gilt als begehrte Wohnlage. Doch als Mia und Hermann Hesse 1907 das Grundstück wählten, stand ihr Haus im Schweizer Landhausstil nach wenigen Monaten Bauzeit wie ein Leuchtturm auf der Höhe. Einen damals schon alten Birnbaum erklärte Hermann Hesse zum Hausbaum.

Bewahren, forschen, erinnern
Eva Eberwein gilt oft als Bewahrerin des Hesse-Hauses. Doch diese Bezeichnung wird ihrem vielseitigen Engagement nicht gerecht. Im Gespräch erzählt sie, dass sie das Haus seit ihrer Kindheit kenne. Sommerferien bei den Tanten in Gaienhofen machten es ihr vertraut. Als Familie Hesse, mittlerweile waren drei Söhnen geboren, 1912 das Haus verkauft, wechselt es mehrfach den Besitzer, gerät in Vergessenheit und verfällt so stark, dass es beinahe abgerissen wird. 2003 jedoch kaufen Eva Eberwein und ihr Mann Bernd die alte Landhausvilla. Sie sanieren sie denkmalgerecht, rekonstruieren die Nord- und Südgärten, bepflanzen die Beete mit Wildkräutern und pflegen die Bäume, die Hermann Hesse einst pflanzte. Nach der Sanierung wird das Haus 2004 als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung in das Denkmalbuch Baden-Württembergs eingetragen.

Eva Eberwein vertieft sich immer mehr in die Geschichte des Hauses und das Leben der Hesses an diesem Ort. Das Projekt beansprucht so viel Zeit, dass die Diplom-Biologin ihren Beruf aufgibt. Sie ist die Erste, die Mia Hesse, der Hausherrin, besondere Beachtung schenkt. 2019 gibt sie dem Haus den Namen Mia-und-Hermann-Hesse-Haus. Zuvor war es nur als Hesse-Haus bekannt und ließ Mia Hesse unberücksichtigt.

Mia Hesse und der Traum vom Landleben
Als ich von Mia Hesses Lebensweg erfuhr, fragte ich mich sofort: Wie konnte das geschehen? Warum tauschte eine Frau, die um 1900 eine für ihre Zeit außergewöhnliche Unabhängigkeit erreicht hatte, die Stadt gegen ein abgelegenes Dorf am Bodensee? Mia Hesse gab ihr Fotoatelier in Basel auf, um die Ideale des Landlebens zu verwirklichen. Eva Eberwein ordnet diese Entscheidung in den gesellschaftlichen Kontext jener Zeit ein. In ihrer Publikation Mia Hesse – Gaienhofener Alltag neben Hermann Hesse schreibt sie: „Nun aber fort aus Basel, aus der Stadt hinaus auf’s Land: Hermann und Mia Hesse folgten damit den Idealen vieler Zeitgenossen. Die Lebensreform um 1900 prägte mit ihren Idealen die Menschen. Es war eine Abwendung vom wilhelminischen Überfluss und dem überladenen Pomp der Gründerzeit hin zum Ursprünglichen.„

Damals veränderten sich alle Lebensbereiche grundlegend. Das Korsett verschwand aus den Kleiderschränken, gesunde Ernährung mit Müsli, Malzkaffee und vegetarischer Kost hielt Einzug, und Reformhäuser entstanden. Diese Aufbruchstimmung, dieses Umdenken und der Wunsch nach einem anderen Leben, so Eva Eberwein, erfassten auch das junge Paar Hesse. Mia Hesse, tatkräftig und entschlossen, war dabei die treibende Kraft.

Mia Hesse und das Stocken der Seele
Drei Jahre lebten Hermann und Mia Hesse auf einem Bauernhof in Gaienhofen. Die Verhältnisse waren bescheiden, doch als Paar waren sie glücklich. Dann fassten sie den Entschluss, ein eigenes Haus zu bauen – das Haus, das heute ihren Namen trägt. Der Architekt war ein Verwandter von Mia, das Geld stammte größtenteils aus dem Vermögen ihrer Familie. Mia brachte Ideen ein, überwachte den Bau und übernahm, was man heute Bauleitung nennen würde. Offiziell stand Hermann Hesse als Bauherr in den Unterlagen, was später dazu führte, dass das Haus nur seinen Namen trug. Als verheiratete Frau hatte Mia Hesse jedoch nur eingeschränkte Rechte, Entscheidungen zu treffen oder zu verfügen.

Hermann Hesse träumte weniger vom Haus als von einem Garten. Mit Akribie plante und bepflanzte er ihn. Alles hätte perfekt sein können: ein modernes Haus, ein blühender Garten, 1909 die Geburt des zweiten Sohnes. Doch die Fotos, die heute bei Besichtigungen zu sehen sind, zeigen Mia Hesse mit traurigem Blick. Eva Eberwein, die im ehemaligen Kinderzimmer der Hesses steht, beschreibt ihre Lage: Hermann Hesse hatte seit dem Erfolg seines Romans Peter Camenzind (1904) zunehmend Anerkennung als Schriftsteller gefunden. Lesereisen, Kuren und Reisen aus reiner Lust am Unterwegssein bestimmten sein Leben. Mia blieb außen vor. In manchen Jahren war er fünf Monate fort. Sie blieb an das Haus auf der Anhöhe gebunden, brachte in sechs Jahren drei Kinder zur Welt, legte den Fotoapparat aus der Hand und versank in Einsamkeit und Depression.
Die Reformidee vom einfachen Landleben wurde für Mia Hesse zur Falle. 1912 verkauften sie das Haus und zogen nach Bern. Nach einem Nervenzusammenbruch 1919 folgten Klinikaufenthalte, 1922 die Scheidung.

Ein Neubau bedrängt Haus und Garten
Seit Sommer 2025 entsteht auf einem höhergelegenen Hanggrundstück ein mehrgeschossiges Mehrfamilienhaus mit Tiefgarage. Trotz Protesten und einer Petition wurde das Bauvorhaben genehmigt und trägt ausgerechnet die Adresse Hermann-Hesse-Weg 1. Eva Eberwein, der Förderverein und viele Einwohner Gaienhofens fürchten – gestützt durch Gutachten –, dass die acht Meter tiefen Erdarbeiten wasserführende Schichten durchtrennen. Dies könnte Hecken, Bäume und Beete im Nordgarten des Hesse-Hauses unter Trockenstress setzen. Der Neubau wird das denkmalgeschützte Haus überragen und optisch erdrücken. Das Bild des Solitärs auf der Anhöhe wird zerstört, und der Eindruck, den Hermann Hesse einst beschrieb, geht verloren. Er pries die Lage seines Grundstücks mit den Worten: „Die Lage ist sehr schön, Quellwasser ganz nah, das Ganze drei Minuten zum Dorf mit weiter Aussicht nach zwei Seiten.

Hausbesuch
Das Mia-und-Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen bewahrt originale Details wie Hesses Kachelofen im Studierzimmer und einen historischen Garten mit rekonstruierten Nord- und Südgärten, Beeten, Obstbäumen und Wildkräutern. Besichtigungen sind nur nach Voranmeldung möglich. Zudem gibt es feste Termine, wie der Treff unter der Kastanie zwischen April und Oktober, freitags bis sonntags um 12.30 Uhr oder individuell vereinbarte Termine für Gruppen. Eigentümerin Eva Eberwein führt die Besucher durch das Haus und den Garten. Die Führungen dauern etwa ein bis zwei Stunden, kosten 12 € pro Person und bieten manchmal zusätzliche Programmpunkte wie Vorträge, Filmrundgänge oder Wildkräutererkundungen.

Ein Besuch lässt sich mit dem nahegelegenen Hesse-Museum im Dorf kombinieren. Doch das Alltagsleben der Familie Hesse um 1900, Mia Hesses Fotografie, die Reform-Lebensart und den einzigen Garten, den Hesse selbst gestaltete, erlebt man nur hier. Die Führungen gewähren Einblicke in diese Themen und zeigen selten gezeigte Objekte. Sie beleuchten auch die Gaienhofener Zeit, die in Hesses Werken nachklingt.

Rund um den Bodensee
Der Bodensee ist ein Paradies für Gartenfreunde. Neben der berühmten Insel Mainau locken viele weniger bekannte Gartenanlagen. In Gaienhofen pflegte Hermann Hesse seinen Garten, auf der Gemüseinsel Reichenau legte der dichtende Benediktinermönch Walahfrid Strabo einen Kräutergarten an. Auf der Schweizer Seite führt die Route der Thurgauer Bauerngärten durch blühende Landschaften. Am Arenenberg schufen Königin Hortense und ihr Sohn Prinz Louis Napoleon einen Landschaftsgarten nach den Ideen von Fürst Pückler-Muskau und hinterließen ein Schloss voll napoleonischer Exilgeschichte.
Die Recherchereise wurde von Regio Konstanz Bodensee Hegau unterstützt