Insel Reichenau: Gedichte und Gemüse

Die Reichenau, größte Insel im Bodensee, blickt auf über 1.300 Jahre Geschichte zurück. Seit 2000 zählt sie zum Unesco-Welterbe. Auf der „Reichen Aue“, begünstigt durch mildes Klima und den Bodensee als riesigen Wasserspeicher, begann man um 1850 mit dem professionellen Gemüseanbau. Doch den Grundstein legten, wie so oft, die Mönche. Als Bischof Pirmin 724 die Insel betrat und das Kloster Reichenau gründete, schuf er ein bedeutendes geistiges Zentrum des Mittelalters. 

Das Tafelgemälde  von 1624 im Münster St. Maria und Markus veranschaulicht die Gründungslegende der Insel Reichenau und zeigt die Ankunft des Heiligen Pirmin. Die Bildmitte nimmt die ummauerte Klosteranlage mit der im 19. Jh. abgerissenen Abtspfalz und der Pfarrkirche St. Johann ein. Direkt am Hafen steht das „Hohe Haus“, am linken Bildrand sind die Ruine Schopflen und St. Georg in Oberzell, am rechten Bildrand St. Peter und Paul in Niederzell zu erkennen / © Foto: Georg Berg
Das Tafelgemälde von 1624 im Münster St. Maria und Markus zeigt die Gründungslegende mit Ankunft des Heiligen Pirmin / © Foto: Georg Berg

Wein und Worte

Seit dem 19. Jahrhundert verbindet ein von Pappeln gesäumter Damm die 4,5 Kilometer lange und 1,5 Kilometer breite Insel mit dem Festland. Charakteristisch sind die weiten Gemüsefelder, Gewächshäuser und Rebhänge, die einen Großteil des regionalen Gemüses für Baden-Württemberg und Bayern liefern. Den ersten Wein pflanzten Benediktinermönche 818. Rund 100 Jahre zuvor, so die Legende, hatte Bischof Pirmin Ungeheuer aus dem Bodensee vertrieben. Er sah in der Insel eine „reiche Au“, die heute Reichenau heißt, und gründete dort eine Benediktinerabtei.

Überlebensgroße Statue von Bischof Pirmin am Bruckgraben, nahe dem Übergang vom Festland zur Insel Reichenau. Sie symbolisiert Pirminius’ Ankunft 724 n. Chr., als er das Kloster gründete und die Insel von mythischen Ungeheuern befreite / © Foto: Georg Berg
Statue von Bischof Pirmin, nahe dem Übergang vom Festland zur Insel Reichenau. Sie symbolisiert Pirminius’ Ankunft 724 n. Chr., als er das Kloster gründete und die Insel von mythischen Ungeheuern befreite / © Foto: Georg Berg

Think-Tank des Mittelalters

Wer heute das verschlafene Mittelzell besucht, ahnt kaum, dass hier im frühen Mittelalter ein geistiges Zentrum Europas blühte. Buchmalerei, Wissenschaft und Bildung machten die Insel zur „Wiege abendländischer Kultur“. Auf der Reichenau stehen noch immer drei fast unverändert erhaltene romanische Kirchen: das Münster St. Maria und Markus sowie die Kirchen St. Georg und St. Peter und Paul. Gemeinsam mit der ehemaligen Benediktinerabtei bilden sie die „Klosterinsel Reichenau“, die seit 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.

Münster St. Maria und Markus in Mittelzell, Kloster Reichenau, hier das MIttelschiff und der normannische Dachstuhl (1236/37) / © Foto: Georg Berg
Münster St. Maria und Markus in Mittelzell, Kloster Reichenau, hier das MIttelschiff und der normannische Dachstuhl (1236/37) / © Foto: Georg Berg

Hortulus – Das Gedicht zum Gartenbau

In vielen Teilen Deutschlands ist er kaum bekannt, doch auf der Insel Reichenau und im westlichen Bodenseeraum tragen Schulen, Straßen und Kräutertees seinen Namen: Walahfrid Strabo. Der Benediktinermönch aus dem neunten Jahrhundert zählt zu den bedeutendsten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit. Berühmt wurde er vor allem durch sein Lehrgedicht „Liber de cultura hortorum“ – das Buch über die Gartenpflege. Dieses Werk in Versform ist die älteste Abhandlung über Gartenbau, die auf deutschem Boden entstand. Walahfrid wurde um 808 nahe der Reichenau geboren und trat früh in das dortige Kloster ein. Seine Karriere führte ihn nach Aachen, wo Kaiser Ludwig der Fromme ihn 838 für seine Verdienste als Hofdichter zum Abt des Klosters Reichenau ernannte. Vermutlich entstand in dieser Zeit sein Gedicht über den Gartenbau. 

Hausfassade nahe dem Münster St. Maria und Markus in Mittelzell mit der Darstellung eines Benediktinermönches und dem Ordensspruch  Ora et Labora. Auf der Insel Reichenau galt die Ordensregel „Ora et labora“ seit der Gründung 724 die Mönche: Sie beteten im Münster und bewirtschafteten Gemüsefelder sowie Weinberge, was die Insel zur „Gemüse- und Weininsel“ machte.  Das Motto unterstreicht die UNESCO-Welterbe als Symbol für harmonisches Mönchsleben / © Foto: Georg Berg
Hausfassade mit der Darstellung eines Benediktinermönches und dem Ordensspruch Ora et Labora / © Foto: Georg Berg

Das später als Hortulus – übersetzt „Gärtlein“ – bekannte Werk gilt als Meisterstück mittelalterlicher Dichtkunst. In 444 lateinischen Versen beschreibt Walahfrid 24 Kräuter und Nutzpflanzen, darunter Rose, Rettich, Minze, Fenchel, Kerbel und Salbei. Er schildert ihr Aussehen, ihren Duft, Geschmack und ihre heilkundliche Wirkung. Zugleich erzählt er von der mühevollen Arbeit des Gärtners und vom Kreislauf der Natur im Wechsel der Jahreszeiten.  Dabei orientierte er sich am Stil des antiken Dichters Vergil und ließ seine Verse im gleichmäßigen Rhythmus des Hexameters fließen. Bis heute sind sie lesenswert und lehrreich. Über die Universalheilpflanze Salbei schrieb er: 

Leuchtend blühet Salbei ganz vorn am Eingang des Gartens,
Süß von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken.
Manche Gebrechen der Menschen zu heilen, erwies sie sich nützlich,
Ewig in grünender Jugend zu stehen hat sie sich verdient.
Aber sie trägt verderblichen Zwist in sich selbst: denn der Blumen
Nachwuchs, hemmt man ihn nicht, vernichtet grausam den Stammtrieb,
Läßt gierigem Neid die alten Zweige ersterben. (Walahfrid Strabo, Hortulus)

Seitenansicht von Kloster Reichenau mit Klostergarten nach den Plänen von Abt Walahfrid Strabo. Im „Hortulus“ (lateinisch „Gärtlein“) beschreibt er einen Klostergarten mit 24 Kräutern, Gemüsen und Zierpflanzen / © Foto: Georg Berg
Nach den Plänen aus dem Hortulus“ (lateinisch „Gärtlein“) von Abt Walahfrid Strabo gibt es heute wieder einen Klostergarten mit 24 Kräutern, Gemüse und Zierpflanzen / © Foto: Georg Berg

Strabos Kräutergarten liegt am Münster St. Maria und Markus in Mittelzell. Er ist frei zugänglich und kann ohne Eintritt besichtigt werden. Auf der Reichenau findet man nur wenige Darstellungen des Mönchs. Ein kleiner Weg, der von der Seeseite zum Klostergarten führt, trägt seinen Namen, und der „Steckborner Kachelofen“ in der Münsterschatzkammer zeigt ihn in einer Darstellung. Als Abt des Klosters Reichenau, das damals ein bedeutendes Zentrum im Karolingerreich war, übernahm Strabo auch diplomatische Aufgaben. Auf einer solchen Reise ertrank er 849 mit nur 40 Jahren in der Loire. Laut Kirchenschriften wurde er auf der Reichenau begraben, doch der genaue Ort bleibt unbekannt. Im Tourismusbüro in Mittelzell gibt es ausführliche Literatur zum Hortulus.

Feld mit Salatreihen in rot und grün auf der Insel Reichenau. Sie ist die größte Insel im Bodensee und ist etwa 4,5 km lang und 1,5 km breit. 2024 gab es 39 Erzeugerbetriebe, die 70 verschiedene Gemüsesorten anbauten, darunter 2,1 Millionen Salate / © Foto: Georg Berg
Feld mit Salatreihen in rot und grün auf der Insel Reichenau. Sie ist die größte Insel im Bodensee und ist etwa 4,5 km lang und 1,5 km breit. 2024 gab es 39 Erzeugerbetriebe, die 70 verschiedene Gemüsesorten anbauten, darunter 2,1 Millionen Salate / © Foto: Georg Berg

Gemüseinsel Reichenau

Im Sommer breitet sich ein Patchwork aus Eichblatt-, Lollo-Rosso- und Kopfsalaten über die Gemüsefelder der Reichenau. 2024 bauten dort noch 39 Betriebe rund 70 Gemüsesorten an, darunter 2,1 Millionen Salatköpfe. Ein großer Teil des regionalen Gemüses stammt von den sanft geschwungenen Feldern und aus den Gewächshäusern der Insel. Im Freiland gedeihen Kohlrabi, Blumenkohl, Brokkoli, Fenchel und Kräuter. Doch es gibt auch brachliegende Felder und leere Gewächshäuser. Immer mehr Familienbetriebe geben den Gemüseanbau auf. Gleichzeitig wagen junge Bio-Bauern den Schritt in die Zukunft: Sie setzen auf Trendgemüse wie Süßkartoffeln, Ingwer und Zitronengras – und das in großem Stil. 

Tomaten von der Gemüseinsel Reichenau. Pro Jahr werden auf Reichenau 2.300 Tonnen Tomaten, davor 1.600 Tonnen Bio-Tomaten angebaut / © Foto: Georg Berg
Tomaten von der Gemüseinsel Reichenau. Pro Jahr werden auf Reichenau 2.300 Tonnen Tomaten, davor 1.600 Tonnen Bio-Tomaten angebaut / © Foto: Georg Berg

Der Weinbau auf der Reichenau blickt auf eine über 1200-jährige Geschichte zurück, eng verwoben mit der Klostertradition. Im 9. Jahrhundert pflanzten Mönche den ersten Rebstock. Heute dominiert die Sorte Müller-Thurgau, die im milden Klima fruchtig-würzige Aromen von Apfel, Grapefruit und Muskat entwickelt. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem mit 60 Kilometern Rohrleitungen, vier Seepumpwerken und 1.500 Wasserzapfstellen versorgt die Anbauflächen. 

Weinanbau hat auf der Insel Reichenau eine über 1200-jährige Tradition, die eng mit der Klostergeschichte verknüpft ist. Der erste Rebstock wurde im 9. Jahrhundert von Mönchen gepflanzt. Heute wächst auf insgesamt 22 Hektar hauptsächlich Müller-Thurgau / © Foto: Georg Berg
Weinanbau hat auf der Insel Reichenau / © Foto: Georg Berg

Blick hinüber in die Schweiz

Das Hochwarthaus, 1839 als Teehäuschen erbaut, thront 40 Meter über der Insel auf ihrem höchsten Punkt. Von hier schweift der Blick über den Untersee, die Gemüsefelder und den Rhein. Mit etwas Glück ist das Keramikatelier geöffnet, und man kann wie einst Tee trinken und bis zur Schweizer Seite schauen. Gegenüber liegt Schloss Arenenberg, einst Exilheimat von Louis Napoleon Bonaparte und seiner Mutter Hortense de Beauharnais. Von Louis erzählt man, er habe zu Übungszwecken mit Kanonen vom Arenenberg in Richtung Reichenau geschossen.

Das Hochwarthaus wurde 1839 von Geheimrat Eugen von Seyfried als malerisches Teehäuschen errichtet und thront auf dem höchsten Punkt der Insel, etwa 40 Meter über dem Bodenseespiegel, mit Panoramablick über Untersee, Gemüsefelder und den Rhein. Heute dient es als Keramikatelier und auch wieder als Teestube / © Foto: Georg Berg
Das Hochwarthaus wurde 1839 von Geheimrat Eugen von Seyfried als Teehaus errichtet / © Foto: Georg Berg

Thurgauer Bauerngärten

Im Kanton Thurgau wurden sehenswerte Bauerngärten zu einer Route verbunden, die sich zu Fuß, per Rad oder mit dem Auto erkunden lässt. Schriftliche Pläne oder Dokumente zu den Thurgauer Bauerngärten existieren nicht. Der Garten war stets Teil des Bauernhauses, eine unverzichtbare Selbstverständlichkeit. Das Wissen über Anlage, Pflege, Ernte und Vermehrung der Pflanzen wurde mündlich von Mutter zu Tochter weitergegeben. Der Ursprung der Bauerngärten geht auf die frühesten schriftlichen Anleitungen aus dem 9. Jahrhundert zurück: Walahfrid Strabos Hortulus und das Capitulare de villis Karls des Großen, das 90 Pflanzen beschreibt.

Informationen zur Bauerngarten-Route Thurgau und zur Klosterinsel Reichenau

Die Recherchereise wurde von Regio Konstanz Bodensee Hegau unterstützt

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Permalink der Originalversion: https://tellerrandstories.de/bodensee-reichenau